Seite - 190 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
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| Innenstadt und
Bahnhof190
deshauptstadt gesehen“.289 Das Tagblatt verglich die Größe der Menschenmenge
mit einem nicht näher bestimmten Grazer Sängerfest vor der Jahrhundertwen-
de.290 Die Kleine Zeitung lieferte mit ihrer Schätzung von rund 30.000 Menschen
die höchste in diesen Tagen anzutreffende Größenangabe (in puncto Grazer Men-
schenansammlungen). Obendrein ging sie in ihrem Versuch, das nicht alltägliche
Ereignis würdig zu präsentieren, sogar noch weiter als die anderen bürgerlichen
Blätter. Sie schrieb, dass nicht nur die Soldaten, sondern auch die anwesenden Zivi-
listen und Zivilistinnen von sich aus geordnet durch die Annenstraße zogen: „Von
selbst, ohne Zwang, ordneten sich Tausende Begeisterter in Reih und Glied, um
durch die Murgasse und Annenstraße gegen den [...
Hauptbahnhof] zu ziehen um
dort neuerlich die erhebendsten patriotischen Kundgebungen zu veranstalten.“291
Die Kleine Zeitung nahm ihre (verklärte) Schreibweise sicherlich nicht wörtlich.
Die Wortwahl belegt aber die hauptsächlich in den bürgerlichen Zeitungen anzu-
treffende Sehnsucht nach Ordnung: Ordnung auf der Straße (das neue „Masse“-
Verständnis)292, Ordnung zwischen den Geschlechtern sowie prinzipiell die Ord-
nung im Staat. Dieser Ordnungsverweis war eigentlich nichts Neues – jedenfalls
nicht für die bürgerlichen Zeitungen und Zeitschriften. Im Grunde genommen
fand sich die Rede bezüglich der „Ordnung“ auf der Straße mehrmals in den vor-
kriegszeitlichen Zeitungsberichten über Fronleichnamsprozessionen, katholische
Studentenaufmärsche sowie in den Artikeln über die Katholikentage. Ein typisches
Beispiel hierfür ist ein Artikel des Volksblatts, der den 7. „deutsch-böhmischen“293
Katholikentag im böhmischen Rumburg (Rumburk) thematisierte. Abgehalten
wurde der besagte Katholikentag im Spätsommer 1908 und das Volksblatt berich-
tete mehrmals über diese katholische Zusammenkunft. Im Zuge dessen beschrieb
das Grazer Blatt auch den Festzug, der damals vor die Stadttore (und hinauf zu
einer Kirche) zog. Die dabei herangezogene Wortwahl ähnelt rückblickend enorm
den katholischen Beschreibungen der Juli- und Augusttage von 1914:
289 Eine überwältigende patriotische Kundgebung. (Zu unserem Titelbilde.), in: Kleine Zeitung,
13.8.1914, 3.
290 Abschied, in: Grazer Tagblatt, 11.8.1914 (Abendausgabe), 6.
291 Eine überwältigende patriotische Kundgebung. (Zu unserem Titelbilde.), in: Kleine Zeitung,
13.8.1914, 3.
292 Siehe das Kapitel: Die „patriotischen“ Straßenumzüge.
293 Zum siebenten deutsch-böhmischen Katholikentage in Rumburg, in: Grazer Volksblatt, 7.9.1908
(Abendausgabe), 2.
Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Titel
- Graz 1914
- Untertitel
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Autor
- Bernhard Thonhofer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln- Weimar
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Abmessungen
- 17.4 x 24.5 cm
- Seiten
- 510
- Schlagwörter
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453