Seite - 198 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
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| Innenstadt und
Bahnhof198
sich Mitte August zeigte, nicht gelassen, geschweige denn freudig entgegentreten.
Vielmehr suchte man Halt und Trost in den Kirchen, in den Gast- und Kaffeehäu-
sern oder engagierte sich in Vereinen. Wie verdeutlicht, waren die Zeitungen aus
meiner Sicht durchaus bemüht, den Abschiedsschmerz halbwegs adäquat darzu-
stellen. Dass dabei einige Male politische Wunsch- und Ordnungsvorstellungen
zum Ausdruck gebracht wurden, ist in Anbetracht der Kriegszeit nachvollziehbar.
Quer durch die journalistischen Bahnhofsbilder fand sich zum Beispiel der Topos
des ausziehenden Vaters, der seine Tochter küsst, währenddessen die Mutter ihre
Tränen durch Abwenden versteckt. So wurden das „Bleib’ brav!“329 der Mutter, das
„Macht’s meinem Namen ka Schand’!“330 des Vaters sowie das „Vater, komm’ bald
z’rück!“331 des Kinds viele Male den Menschen in den Mund gelegt. Die klerikal-
konservative Presse transportierte abseits der mütterlichen Ratschläge und der vä-
terlichen Handschläge den Topos des Vaters, der dem knienden Sohn ein Kreuz
auf die Stirn zeichnet.332 Auf derartige Bilder griff die deutschnationale Presse und
der Arbeiterwille nicht zurück. Einmal transportierte die Kleine Zeitung das Bild
von der weinenden Mutter auch mittels einer anonymen Federritzzeichnung. Die
Kleine Zeitung war konträr zu den anderen Tageszeitungen seit jeher reichhaltig
mit teilweise schwülstig-kitschigen und ausdrucksstarken Federritzzeichnungen
versehen. Auch zu Kriegsbeginn war sie diejenige unter den Tageszeitungen, die
die meisten Zeichnungen produzierte. Ins Auge stechen hier speziell die Titelbil-
der, die sich seit Ende Juli eigentlich nur mehr um das Frontgeschehen drehten.
Bilder von der „Heimatfront“ wurden nur selten angefertigt. Blickt man nun auf
die Abschiedsszene in der Kleinen Zeitung, lassen sich hierfür unterschiedliche
Interpretationswege einschlagen.
aufmerksam von allen vier Seiten. Zur Bank zurückgekehrt, legte er sein Lockenköpfen auf den
Schoß der Mutter und fragte in nachlässigem Tone: ‚Mama, was steht denn dort alles auf den
Steinen?‘ Statt der Mutter gab das ältere Schwesterlein zur Antwort: ‚Dort stehen die Namen der
Soldaten, die nicht mehr zurückgekehrt sind.‘ Es trat eine kleine Pause ein. In ahnungsloser Un-
schuld unterbrach sie der Kleine mit den Worten: ‚Aber wohin schreiben sie denn unseren Papa,
wenn er nicht mehr zurückkommt? Es ist ja kein Platz mehr auf den Steinen!‘ – Das Kind ahnte
nicht, daß es seiner Mutter einen Messerstich ins Herz versetzte.“ Aus: Am Kriegerdenkmal, in:
Grazer Tagblatt, 7.8.1914, 9. Vgl. dazu auch: Das Bild am Bahnhof, in: Arbeiterwille, 27.7.1914
(Abendausgabe), 2.
329 Bleib’ brav!, in: Grazer Volksblatt, 4.8.1914, 6. Vgl. parallel: Bleib’ brav!, in: Kleine Zeitung,
5.8.1914, 6.
330 Macht’s meinem Namen ka Schand’!, in: Grazer Volksblatt, 31.7.1914, 7.
331 Das Stimmungsbild in Graz, in: Grazer Volksblatt, 27.7.1914 (Abendausgabe), 1. Vgl. parallel:
Begeisterte Stimmung in Graz, in: Kleine Zeitung, 28.7.1914, 6.
332 Bleib’ brav!, in: Grazer Volksblatt, 4.8.1914, 6.
Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Titel
- Graz 1914
- Untertitel
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Autor
- Bernhard Thonhofer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln- Weimar
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Abmessungen
- 17.4 x 24.5 cm
- Seiten
- 510
- Schlagwörter
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453