Seite - 216 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
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| Innenstadt und
Bahnhof216
kel verwiesen, die die Ungeduld und die „[u]nziemliche Neugierde“ der Menschen
kritisierten:
• „Es gibt Leute, denen es schon nicht schnell genug geht. Sie können es nicht er-
warten, daß große blutige Schlachten gemeldet werden, glänzende, entscheidende
Schlachten. [...] Es wird noch früh genug das Blut in Strömen fließen, es nicht
erwarten zu können, ist Frevel und sträfliche, herzlose Neugier.“420
• „In Zeiten so hoher Spannung mag der anfänglich langsame Gang der Ereignisse,
ja die Ereignislosigkeit mit der inneren Ungeduld jedes einzelnen nicht im Ein-
klang stehen und das Ohr auch dem abenteuerlichsten Gerüchte öffnen.“421
Im selben Atemzug waren es aber gerade die Zeitungen, die von Beginn an jedes
noch so kleine Gefecht („Plänkelei“) und jedes Pseudoereignis „ausschlachteten“.
Diese widersprüchlichen Kriegsvorstellungen verdeutlichten den vorherrschen-
den Mangel an einschlägigen Kriegserfahrungen und trugen mitunter dazu bei,
dass Anfang September weite Bevölkerungsteile auf den Bahnhof zogen, um end-
lich ein wahrheitsgetreues Bild von den Kriegsschauplätzen zu erhalten.
Im Unterschied zur bürgerlichen Tagespresse, die von Beginn an mit einem
Sieg rechnete, hielt sich der Siegesoptimismus des Arbeiterwillens in Grenzen. In
seiner Rubrik „Briefkasten der Redaktion“ stand beispielsweise: „Das hängt vom
Ausgang des Kriegs ab, den heute wohl schwerlich jemand voraussagen kann.“422
Schließlich seien die negativen Kriegsauswirkungen „auf ganz Europa, nein, auf
die ganze Welt“ unabsehbar.423 Außerdem sei der Weltkrieg „eine Katastrophe [...],
deren Ende niemand voraussehen“ könne.424 Am 6. August sprach der Arbeiter-
wille vom „schrecklichste[n] Krieg, den je die Welt erlebt hat“.425 Zudem gehe die
Sozialdemokratie „einem ungewissen Schicksal“426 entgegen. Am Tag des großen
Truppenabmarsches aus Graz (11. August) hieß es auf der Titelseite des Arbei-
terwillens, dass ein „Krieg aller gegen alle [...] mit aller Furchtbarkeit eingetre-
ten“ sei, weshalb „niemand weiß, was die Zukunft“ bringen werde.427 Aber diesen
420 Unziemliche Neugierde, in: Arbeiterwille, 8.8.1914, 1.
421 Vom österreichisch-serbischen Kriegsschauplatz, in: Arbeiterwille, 4.8.1914, 1.
422 Briefkasten der Redaktion, in: Arbeiterwille, 18.8.1914 (Abendausgabe), 4.
423 Der Friedenszar will den Krieg?, in: Arbeiterwille, 1.8.1914, 1.
424 England hat Deutschland den Krieg erklärt!, in: Arbeiterwille, 5.8.1914 (Abendausgabe), 1.
425 Der Weltkrieg, in: Arbeiterwille, 6.8.1914 (Abendausgabe), 1. Vgl. dazu auch: Bachmann (1972),
55, 167.
426 Patriotismus, in: Arbeiterwille, 7.8.1914 (Abendausgabe), 1.
427 Ein großer Erfolg der deutschen Armee in Oberelsaß, in: Arbeiterwille, 11.8.1914 (Abendaus-
gabe), 1.
Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Titel
- Graz 1914
- Untertitel
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Autor
- Bernhard Thonhofer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln- Weimar
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Abmessungen
- 17.4 x 24.5 cm
- Seiten
- 510
- Schlagwörter
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453