Seite - 218 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
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| Innenstadt und
Bahnhof218
zumindest für Deutschland und Großbritannien432 – einschneidende Veränderun-
gen des Begriffshaushalts erkennen. In den ersten Kriegswochen war diese Folge
des Kriegs aber noch nicht in den Grazer Zeitungen und Zeitschriften sichtbar.
Zwar versuchten die bürgerlichen Redaktionen (und hier hauptsächlich die Zei-
tungen des vielschichtigen deutschnationalen Milieus) eine „Sprachbereinigung“
durchzuführen, aber deren Erfolge blieben weit hinter den Erwartungen zurück.433
Die Rede vom „fürchterliche[n] Krieg“ war im Arbeiterwillen omnipräsent.434
Gleichzeitig strich er hervor, dass dieser Krieg ein legitimer und „populär[er]“
Krieg sei.435 Der Krieg gegen Russland sei für ihn (konträr zum anfänglichen „Ser-
bienkrieg“) deswegen legitim, weil man zu einem „Verteidigungskrieg“ gezwungen
sei. Demonstrativ schlug sich diese Ansicht in dem partiell zensierten Artikel „Was
die Sozialdemokratie jetzt bedeutet“ nieder.436 Der Artikel wurde der Redaktion
zufolge der Zeitung „Welt am Morgen“ (Berlin) entnommen:
„Ohne die ‚vaterlandslosen Gesellen‘ wäre jetzt die Macht des [Deutschen] Reiches
schlimm daran. [...] Auch sie verzeihen und stehen neben ihren Brüdern. Auch sie ver-
zeihen und vergessen in dieser Stunde, daß man eben noch sie als den ‚inneren Feind‘
betrachtet und auch behandelt hat. Sie haben mehr zu verzeihen als der Kaiser, aber
die gemeinsame Gefahr findet sie in Reih’ und Glied. [...] Der Haß gegen das blutrüns-
tige Regiment des Zaren ist ihr Mandat. Sie wissen, daß es ein Unsinn ist, diesen Krieg
als die Erhebung der Germanen gegen die Slawen anzusehen. Nicht gegen die Slawen,
aber gegen die Knute führen wir den Krieg. Indem die deutschen Arbeiter ihr Vaterland
verteidigen, wissen sie, daß sie zugleich das hohe, wenn auch harte Amt haben, denen
das Joch zu erleichtern, die ihnen im Felde als Feinde begegnen. [X] Die Märtyrer der
Freiheit zu befreien, die in russischen Gefängnissen schmachten, wird ihnen ein begeis-
terndes Ziel sein. Aber wenn die Massen der Arbeiter nun zu den Fahnen eilen und alle
Unbill vergessen, so haben auch die Leute Bescheidenheit und Gerechtigkeit zu lernen,
die bisher sich als die alleinigen Nutznießer und Berechtigten dieses Landes aufgespielt
haben. [X] So ist’s! Die Sozialdemokraten erfüllen ihre Pflicht, und ohne diese Pflicht-
erfüllung wäre das Reich verloren. So ist’s! Und wie wird’s sein nach dem Kriege? Die
bürgerlichen Parteien mögen es sich vor Augen halten: Die politische Rechnung wird
vorgelegt werden! Und man wird sie einlösen müssen! Denn die Sozialdemokratie ist
432 Zum Hintergrund: Reimann (2000).
433 Siehe das Kapitel: Über die „Sprachbereinigung“.
434 Die Sozialdemokratie und der Krieg, in: Arbeiterwille, 26.9.1914, 1.
435 Krieg, Krieg …, in: Arbeiterwille, 7.8.1914 (Abendausgabe), 4.
436 Was die Sozialdemokratie jetzt bedeutet, in: Arbeiterwille, 15.8.1914, 8. Im folgenden Direktzitat
werden die zensierten Stellen mit „[X]“ ausgewiesen.
Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Titel
- Graz 1914
- Untertitel
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Autor
- Bernhard Thonhofer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln- Weimar
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Abmessungen
- 17.4 x 24.5 cm
- Seiten
- 510
- Schlagwörter
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453