Seite - 223 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
Bild der Seite - 223 -
Text der Seite - 223 -
Erste „Entscheidungsschlachten“ | 223
Fall mehr negativ als positiv auswirkte. Die Zeitungen schrieben nämlich in den
letzten Augusttagen andauernd von dem linken Flügel der k.
u.
k.
Armee rund um
Lemberg (Lviv).462 Diese Überbetonung des linken Flügels stützte sich auf die amt-
lichen Heeresberichte: „Die letzte amtliche Meldung unseres Generalstabes läßt
erkennen, daß wir insbesondere auf unserem offensiv vorgehenden linken Flügel
von Erfolg zu Erfolg schreiten.“463 Der rechte Flügel erhielt, sofern er überhaupt
zur Sprache kam, ungleich weniger Aufmerksamkeit. Gerade das massive publi-
zistische Insistieren auf den einen (anfänglich tatsächlich) siegreichen linken An-
griffs-Flügel lenkte aber den Blick der Daheimbleibenden auf den rechten Flügel.
Infolgedessen wurden Spekulationen bezüglich etwaiger Misserfolge des rechten
Flügels lauter, die die „nervenaufreibende“ Ungewissheit und Unklarheit dieser
Tage erhöhten. Denn im Grunde genommen wusste man nichts über den rechten
Flügel. Peter Rosegger zog (im Nachhinein) den Flügel-Vorfall als Lehre für die
Zukunft heran. So steht in der Oktoberausgabe seiner Kolumne „Heimgärtners
Tagebuch“ (für den 2. September):
„Seit einer Woche schreiben die Zeitungen von einer Riesenschlacht bei Lemberg, von
einer Millionenschlacht, von der größten Schlacht, so die Welt je gesehen. Von der Ent-
scheidungsschlacht über unser Sein oder Nichtsein. Da horcht man hin. Hört aber im-
mer nur vom siegreichen linken Flügel. Mit einem Flügel kann der Adler aber nicht
fliegen. Was ist’s mit dem zweiten? Ist ein Unglück geschehen? So oft vom ‚siegreichen
linken Flügel‘ die Rede ist, muß ich an den rechten nicht siegreichen denken. Es gibt
Diskretionen, die mehr verraten, als sie zu verschweigen haben. Der ‚siegreiche linke
Flügel‘ seit acht Tagen stachelt die Phantasie auf – man sieht eine Katastrophe, wo viel-
leicht nur ein augenblickliches taktisches Zurückweichen stattfand. Bisher waren immer
nur Siegesnachrichten, von Süden, von Westen und von Norden. Mitten in der heißesten
Freude wurde mir bange. Wie ist es möglich, daß ein solcher Krieg ohne Unfälle vor
sich geht? Man verschweigt was. Daß man das Volk nicht entmutigen darf, das verstehe
ich schon. Aber wenn unsere Soldaten auf dem Felde so viel Mut haben müssen, um
auch Niederlagen ertragen zu können, so werden wir Daheimbleibenden doch auch so
viel Kraft haben, um der Botschaft zu stehen. Wir sind nicht Franzosen, denen man die
schwersten Niederlagen zu schönen Siegen umdichten muß. Wir sind Leute, die [die]
462 Als Beispiel für eine Vielzahl: Neue Erfolge am linken Flügel, in: Grazer Tagblatt, 30.8.1914, 1.
Zum linken Flügel vgl. auch den Lexikonartikel „Lemberg“ von Günther Kronenbitter in: Hirsch-
feld/Krumeich/Renz (22014), 675–676.
463 Die russische Schlachtfront durchbrochen, in: Grazer Tagblatt, 1.9.1914 (Abendausgabe), 1.
Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Titel
- Graz 1914
- Untertitel
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Autor
- Bernhard Thonhofer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln- Weimar
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Abmessungen
- 17.4 x 24.5 cm
- Seiten
- 510
- Schlagwörter
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453