Seite - 225 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
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Erste „Entscheidungsschlachten“ | 225
wenn Mißerfolge verschwiegen werden? Oder ist das Großstadtvolk so herzensschwach,
daß es herbe Botschaften nicht ertragen kann?“469
Sieht man einmal von seiner agraromantischen Spitze gegen das „Großstadt-
volk“ ab, so ist seiner Einschätzung nur zuzustimmen. Schließlich verschwiegen
nicht nur die Wiener, sondern auch die Grazer Tageszeitungen die Niederlage der
k. u. k. Armee. Nach der (damals von den Zeitungen nicht ausgesprochenen) Nie-
derlage in der „Entscheidungsschlacht bei Lemberg“470, die im Nachhinein von
allen Grazer Zeitungen als „Kampfpause“471 oder als geplante „Räumung“472 titu-
liert wurde, fokussierten sich die Redaktionen wieder verstärkt auf den serbischen
Kriegsschauplatz und auf die Westfront (aus deutscher Sicht). Schlussendlich hieß
es im Hinblick auf den „Vormarsch“ auf Paris sogar: „Schon die nächsten Stunden
werden uns wohl den Höhepunkt des Weltkrieges zu Lande bringen“.473 Diese Hoff-
nungen erfüllten sich freilich nie. Und so sprachen die Grazer Zeitungen im Juni
1915 erneut von der „große[n] Entscheidungsschlacht bei Lemberg“.474 Zusammen
betrachtet fällt auf, dass die Zeitungen mit ihren zensierten Berichten zum einen
ihren Vorstellungen entsprechend aufklärten und zum anderen ungewollt Unklar-
heit und unerfüllbare Erwartungshaltungen bei den Menschen schufen. Das Nach-
richtenbedürfnis war so groß, dass sich einige Zeitungen und Behörden darüber
Gedanken machten, wie man es drosseln könnte. Graz unterschied sich diesbe-
züglich nicht sonderlich von anderen Städten. Behördliche Maßnahmen zur Abfe-
derung des erhöhten Nachrichtenbedürfnisses wurden oft in den kriegführenden
Staaten durchgeführt. In Paris wurden sowohl allzu große Zeitungsschlagzeilen als
auch das „Ausschreien“ beim Zeitungsverkauf verboten (worüber z.
B. das Tagblatt
berichtete).475 In Berlin beschränkte man per Verordnung die Zahl der Extra- und
Sonderausgaben.476 In Tirol ließ man gegen Ende des Kriegsjahrs 1914 die Abend-
ausgaben an Stelle der Extraausgaben treten.477
469 Heimgärtners Tagebuch, in: Heimgarten (1914), Nr. 1, 67.
470 Die Entscheidungsschlacht bei Lemberg, in: Grazer Mittags-Zeitung, 10.9.1914, 1.
471 Kampfpause in Galizien, in: Grazer Mittags-Zeitung, 15.9.1914, 1.
472 Die Räumung Lembergs, in: Grazer Vorortezeitung, 13.9.1914, 2.
473 Die große Schlacht in Frankreich, in: Grazer Tagblatt, 20.9.1914, 1.
474 Die große Entscheidungsschlacht bei Lemberg, in: Grazer Tagblatt, 19.6.1915 (Abendausgabe), 1.
475 Raithel (1996), 417. Vgl. zudem den Artikel: Die Spitzmarke auf dem Hute, in: Grazer Tagblatt,
30.10.1914 (2. Morgenausgabe), 3.
476 Raithel (1996), 417.
477 Urbaner (2014), 259.
Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Titel
- Graz 1914
- Untertitel
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Autor
- Bernhard Thonhofer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln- Weimar
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Abmessungen
- 17.4 x 24.5 cm
- Seiten
- 510
- Schlagwörter
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453