Seite - 235 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
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Erste „Soldatenerzählungen“ | 235
zwischen jenen Regionen, die Kriegsgefangene und Flüchtlinge aufnahmen (auf-
nehmen mussten), und jenen, die dies nicht taten. Gleichzeitig kam es nichtsdes-
toweniger zu diversen Brückenschlägen zwischen den Geschlechtern und diversen
Milieus. Zusammen ergaben sie das Bild eines Grazer Alltags, der sich aufgrund
des „Septemberschocks“529 entschieden von der Kriegsrealität der ersten vier
Kriegswochen abhob. Der „Hurrapatriotismus“ war verschwunden. Zudem setzte
sich in den Septembertagen die Desillusionierung jener Bevölkerungskreise, in de-
nen eine Kriegsidealisierung vorhanden war, weiter fort. Zunächst lässt sich fest-
halten, dass sowohl jene Zeitungsappelle, denen zufolge niemand während des
Verwundetenabtransports den Bahnhof betreten sollte, als auch jene Appelle, de-
nen zufolge niemand den durch die Stadt transportierten (verwundeten)
k. u. k. Soldaten Zurufe erteilen sollte, auf taube Ohren stießen.530 Erneut kamen
viele Männer und Frauen aus allen „gesellschaftlichen Stellungen“531 zum Bahnhof.
Die Bevölkerung war offensichtlich schockiert und interessiert zugleich. Bedenkt
man, dass die Zeitungen mit ihrer Überbetonung des linken Flügels vor
„Lemberg“532 ungewollt Unruhe und Sorge bei den Grazern und Grazerinnen stif-
teten bzw. nährten, ist es nur verständlich, dass viele Menschen zum Bahnhof
strömten. Schließlich konnten sie sich nun aus erster Hand über die Zustände an
den Fronten informieren. Es waren aber nicht nur nachrichtentechnische Gründe,
weshalb die Menschen zum Bahnhof zogen. Selbstredend fuhren weiterhin Solda-
tenzüge an die Front, weswegen viele Menschen zur Verabschiedung der Soldaten
kamen. Andere Zivilpersonen gingen zum Bahnhof, um einen geliebten Menschen
unter den heimkehrenden Soldaten zu suchen. Und wieder andere zogen zum
Bahnhof, um ihr Sensationsbedürfnis zu stillen. Für die Presse stand fest, dass die
verwundeten k. u. k. Soldaten „Kriegshelden“533 waren. Berühmte Verwundete
wurden von den Zeitungen besonders hervorgehoben. Zu den extra betonten Sol-
daten zählten zum Beispiel der „Grazer Sportsmann und Rennfahrer Heinrich
Haas“534 und „der Grazer Radrennfahrer Zimmermann, der im Warenhaus Brüder
529 Begriff nach Oswald Überegger (2002), 263.
530 Vgl. allein den zur Hälfte zensierten Artikel: Noch kein Verwundetentransport in Graz, in: Ar-
beiterwille, 1.9.1914, 3.
531 Ankunft von 500 Verwundeten für die Grazer Spitäler, in: Grazer Volksblatt, 6.9.1914, 5.
532 Siehe das Kapitel: Erste „Entscheidungsschlachten“.
533 Bei den Verwundeten, in: Arbeiterwille, 5.9.1914, 3.
534 Ankunft der Verwundeten, in: Grazer Volksblatt, 7.9.1914 (18-Uhr-Ausgabe), 2. Ferner der Ar-
tikel: Wie der Grazer Rennfahrer Heinrich Haas die Tapferkeitsmedaille erwarb, in: Grazer Tag-
blatt, 3.3.1915 (Abendausgabe), 2.
Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Titel
- Graz 1914
- Untertitel
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Autor
- Bernhard Thonhofer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln- Weimar
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Abmessungen
- 17.4 x 24.5 cm
- Seiten
- 510
- Schlagwörter
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453