Seite - 237 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
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Erste „Soldatenerzählungen“ | 237
dergleichen als Schaustücke ausgestellt worden sein.“543 Ähnliches galt für den ver-
botenen Ankauf von Monturteilen russischer Kriegsgefangener, zumal der Staat
für die Einkleidung der russischen Kriegsgefangenen aufkommen musste.544 Eng
damit verbunden war auch der Appell, dass Grazer Familien nicht mehr gebrauchte
Uniformstücke der Armee spenden sollten.545 Zwei der Fragen, die man der Presse
zufolge den Soldaten oft stellte und die auch oft von der Presse thematisiert wur-
den, waren, ob die russische Armee tatsächlich jedes Mal vorbeischieße und, ob
ihre Granaten tatsächlich nie explodieren würden. Mitte September gesellte sich
zu dem Topos der russischen Granaten und der vorbeischießenden Soldaten noch
jener, dass die französischen Bajonette der russischen Armee nach jedem Angriff
„krummgebogen“ seien.546 Die heimkehrenden Soldaten wurden von der Presse
von Beginn an für politische Meinungen und Vorstellungen instrumentalisiert.
Die Soldaten traten in den Zeitungen mittels anonym ausgewiesener „Soldatener-
zählungen“ in Erscheinung. Wer sich hinter diesen „Autopsieberichten“ verbarg –
ein Soldat, dessen Erzählung von der Redaktion wie auch immer nacherzählt
wurde, oder lediglich eine Redaktion, die eine Erzählung fingierte – bleibt unge-
wiss. Auf jeden Fall wurden diese Geschichten mithilfe von konventionellen Au-
thentifizierungs- und Beglaubigungsstrategien verfasst. In den Zeitungsberichten,
in denen verwundete Soldaten entweder direkt oder indirekt Auskunft über das
Leben an der Front gaben, verschwamm Erfundenes mit Realem. Die „Soldatener-
zählungen“ über den serbischen Kriegsschauplatz berichteten einhellig vom gren-
zenlosen „Fanatismus der Serben“.547 So schilderte ein Infanteriehauptmann, dass
ein Brunnen mit k. u. k. Soldatenleichen vergiftet gewesen sei und dass selbst ein
543 Verschleppung feindlicher Waffen, Erlass der Statthalterei vom 13.12.1914, in: Verordnungsblatt
der k. k. steiermärkischen Statthalterei (16.12.1914), 437.
544 Kauft keine russische[n] Monturen!, in: Grazer Mittags-Zeitung, 1.10.1914, 4. Siehe einen weite-
ren dementsprechenden Appell in der Presse in: Verbot des Ankaufs von Uniformstücken russi-
scher Gefangener, in: Grazer Mittags-Zeitung, 11.9.1914, 3: „Die Heeresleitung hat den Ankauf
von Uniformstücken russischer Gefangener verboten. Auch den Gefangenen ist nicht gestattet,
ihre Uniform zu verkaufen.“
545 Uniformen für Kriegsfreiwillige, in: Grazer Mittags-Zeitung, 2.10.1914, 3: „Viele Familien, deren
Angehörige im Heere dienen oder gedient haben, befinden sich im Besitze von Uniformstücken.
Mancher sieht sie vielleicht gar als unnütz die Schränke füllenden Ballast an, den er gerne los
sein möchte. Diese Bekleidungs- und Ausrüstungsstücke, auch Extrataschen, biete man irgend
eine[m] Ersatztruppenteile an. Sicher nimmt er sie gerne. Sie finden zur verbesserten Einklei-
dung der dort in der Ausbildung begriffenen Kriegsfreiwilligen gute Verwendung.“
546 Die französischen Bajonette der Russen, vollständig krummgebogen, in: Grazer Mittags-Zeitung,
18.9.1914, 3.
547 Was die Verwundeten erzählen, in: Grazer Tagblatt, 9.9.1914, 9.
Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Titel
- Graz 1914
- Untertitel
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Autor
- Bernhard Thonhofer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln- Weimar
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Abmessungen
- 17.4 x 24.5 cm
- Seiten
- 510
- Schlagwörter
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453