Seite - 244 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
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| Innenstadt und
Bahnhof244
jetzt der Krieg.“582 Letzten Endes pendelte der Arbeiterwille fortlaufend zwischen
Diffamierung und einer unentschlossenen Differenzierung der Zivilinternierten
in Unschuldige und Schuldige. Worüber er sich jedoch massiv echauffierte, war
die Tatsache, dass der „Elendszug“ von überstellten Zivilinternierten fast täglich
bedroht werde.583 Viele Grazer und Grazerinnen strömten zum Lager Thaler-
hof. Diese Ausflüge wurden von den Zeitungen einige Male beschrieben. Einmal
schätzte die Mittags-Zeitung die Zahl jener, die „mittels Bahn über Abtissendorf,
zu Fuß und auf Fahrrädern“ nach Thalerhof kamen, auf „[n]ahezu zehntausend
Personen“.584 Diese Zahl scheint mir etwas übertrieben, was jedoch nichts an der
Tatsache ändert, dass die Presse mehrmals von größeren Ausflugsgruppen spricht.
Der Arbeiterwille appellierte wie die anderen Zeitungen an die Grazer Bevölke-
rung, dass sie beim Lager „größte Vorsicht“ an den Tag legen sollte, da man sonst
seine „Neugierde leicht mit dem Leben bezahlen“ könnte.585 Diesbezüglich verwies
er auf die Soldaten, die die Zivilinternierten streng bewachten. Später sollten die
Steirer und Steirerinnen gar nicht mehr hingehen, weil eine zu hohe Infektionsge-
fahr bestand. An diesen Wanderungen erkennt man durchaus Ansätze eines sehr
früh einsetzenden „Schlachtfeldtourismus“.586 Nur reiste man hier nicht mit ei-
nem Bus an eine bestimmte Front, sondern unternahm einen „wilden“587 (daher
nicht institutionell organisierten, aber politisch motivierten) Ausflug an der „Hei-
matfront“. Diesen Ausflügen lag aber „nicht Neugierde allein zu Grunde, sondern
auch der in der Bevölkerung erregte Haß gegen die Vaterlandsverräter, der auch
von der Menge wiederholt zum Ausdruck gebracht wurde, so daß die Wachposten
Ausschreitungen hintanhalten mußten.“588 Die Mittags-Zeitung berichtete ein-
mal von einem Vorfall, der es wert ist, näher ausgeführt zu werden. Obwohl es
sich hierbei um einen Einzelfall in der Nähe des Thalerhofs handelte, zeigt sich
an ihm eine Facette der damaligen Zeit, die sich auch an vielen anderen Ecken
und Plätzen des Grazer Raums greifen lässt. Anfang September kam nämlich ein
Mann zum Thalerhof, der sich – einem gegen ihn insinuierenden Artikel zufolge
– über die Verpflegung der Zivilinternierten erkundigte.589 Diese Handlung schien
einer „Gesellschaft aus hiesigen Geschäftskreisen“, die gerade „einen Ausflug nach
582 Ruthenische Flüchtlinge in Graz, in: Arbeiterwille, 14.9.1914 (Abendausgabe), 3.
583 Gefühl und Vernunft!, in: Arbeiterwille, 11.9.1914 (Abendausgabe), 3.
584 Die Gefangenen am Thalerhof, in: Grazer Volksblatt, 7.9.1914 (18-Uhr-Ausgabe), 2.
585 Eine Kriegsquarantäne, in: Arbeiterwille, 5.9.1914, 3.
586 Für den „Schlachtfeldtourismus“ vgl. insbesondere: Brandt (2008); Heymel (2007).
587 Begriff nach Susanne Brandt (2008), 201.
588 Die Gefangenen am Thalerhof, in: Grazer Volksblatt, 7.9.1914 (18-Uhr-Ausgabe), 2.
589 Ein sonderbarer Vorfall, in: Grazer Mittags-Zeitung, 7.9.1914, 3.
Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Titel
- Graz 1914
- Untertitel
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Autor
- Bernhard Thonhofer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln- Weimar
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Abmessungen
- 17.4 x 24.5 cm
- Seiten
- 510
- Schlagwörter
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453