Seite - 282 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
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| Alltag und
Einheitsprüfungen282
was die Verunsicherung und die Unzufriedenheit innerhalb der Bevölkerung ver-
größerte: „Unausgesetzt hört man darüber klagen, daß Feldpostsendungen, die in
der vorgeschriebenen Weise ausgefertigt wurden, trotzdem nicht ankommen, ob-
wohl sie nur Kleider und Wäsche, also die dringendsten Gebrauchsgegenstände
enthalten.“177 Die Presse und die Behörden kritisierten vor allem diejenigen Men-
schen, die viele Feldpostbriefe schrieben. Ein Beispiel hierfür ist die Stellungnahme
des Generalpostdirektors Fritz Wagner-Jauregg: „Die Leute, die zehn Feldpostpa-
kete an einen Empfänger sendeten, haben der Allgemeinheit mehr geschadet, als
sie jedem Adressaten nützen konnten.“178 Die mit Nachdruck geführte Kritik blieb
nicht auf die Tages- und Wochenpresse beschränkt, sondern schlug sich auch in
Peter Roseggers Zeitschrift „Heimgarten“ nieder: „Daß die Millionen von Briefen
und Karten, wovon viele auch unnötigerweise geschrieben werden, nicht zu bewäl-
tigen sind, ist wohl zu verstehen.“179 Untermauert wurden einige der Zeitungsan-
weisungen durch die Darstellung diverser Einzelschicksale. Heute lässt sich nicht
mehr klären, ob sich diese kleineren Privatgeschichten tatsächlich so zugetragen
haben oder ob sie fingiert wurden. Jede dieser Geschichten beinhaltete die Aus-
sage, dass allzu viele Feldpostbriefe unnütz bzw. sogar kontraproduktiv für die
Kriegsführung wären. Schließlich würden die zahllosen und teils „jammernden“
Briefe die Soldaten nur belasten und ablenken. So stand zum Beispiel in einem wie
auch immer zustande gekommenen Soldatenbrief (von der Front), dass es völlig
nutzlos sei, der Kavallerie Feldpostbriefe zu senden, da diese immer an vorderster
Front kämpfe und daher keine Zeit hätte zu lesen.180 Sieht man einmal davon ab,
dass dieser Soldatenbrief, wie die anderen veröffentlichten Soldatenbriefe auch,
dazu diente, Siegeszuversicht und Zusammenhalt an der „Heimatfront“ zu forcie-
ren bzw. ein weitgehend einheitliches männliches „Kriegserlebnis“ zu konzipieren,
so findet sich in ihm unverkennbar der Appell, dass man nicht viele Briefe versen-
den sollte. Dieser Appell schlug sich auch in einem Brief eines anonymen Feld-
postbeamten nieder. Diesen Brief erhielt die Mittags-Zeitung von „einer bekann-
ten Dame“.181 Ob es den Brief und die Frau tatsächlich gab, ist nicht klar. Die
Mittags-Zeitung druckte diesen Brief, weil „er so manche, die wegen des Ausblei-
bens von Nachrichten aus dem Felde in Sorge sind, beruhigen dürfte.“ In diesem
Brief schrieb der Feldpostbeamte, dass er beinahe in russische Gefangenschaft ge-
177 Feldpostsendungen, die nicht ankommen, in: Grazer Mittags-Zeitung, 23.9.1914, 4.
178 Bei Feldpostsendungen, in: Grazer Mittags-Zeitung, 13.11.1914, 4.
179 Heimgärtners Tagebuch, in: Heimgarten (1914), Nr. 2, 136.
180 Soldatenbrief, in: Grazer Mittags-Zeitung, 2.9.1914, 2.
181 Das Zitat sowie die folgenden Verweise basieren auf: Leiden eines Beamten der Feldpost, in:
Grazer Mittags-Zeitung, 24.11.1914, 2.
Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Titel
- Graz 1914
- Untertitel
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Autor
- Bernhard Thonhofer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln- Weimar
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Abmessungen
- 17.4 x 24.5 cm
- Seiten
- 510
- Schlagwörter
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453