Seite - 289 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
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Hamsterkäufe | 289
„Wucherer“ und „Kriegsgewinnler“ verbreitet. Sie wurden zu einem Synonym für
den „Verrat“, der obendrein als „Auswuchs“ des Liberalismus und Kapitalismus
angesehen wurde. Teilweise beinhaltete und evozierte die Rede vom „Wucherer“
auch antisemitische Grundhaltungen.224 Die „preistreibenden“ Grazer Kaufleute
galten mehr als nur „Müßiggänger“ oder „Nichtsnutze“. Sie waren lokal wirkende
Grazer, die aufgrund ihrer Selbstbezogenheit und „Kaltherzigkeit“ die Einheit, den
Kriegseinsatz und somit den Kriegsausgang torpedierten. Deshalb finden sich in
den Zeitungen nicht nur allgemein gehaltene Missbilligungen225, sondern auch die
biografischen Notizen (Name, Alter, Beruf und Adresse) einzelner „Lebensmittel-
wucherer“. Dieses öffentliche „Brandmarken“ vollzogen die Redaktionen auch bei
den „Zinsgeiern“ sowie bei den anderen „Scheinpatrioten“, „Profitpatrioten“,
„Kriegsgewinnlern“ und „Hyänen“ (unnachgiebige Vermieter, lohnsenkende Ar-
beitgeber, Großdrogerien, Mehl- und Getreidegroßhandel und so weiter).226 Ähn-
lich intensiv beschwerte sich die Presse über die außereuropäischen „Hyänen“ des
Kriegs, die skrupellos den Ernst der Lage zu privatwirtschaftlichen Zwecken aus-
nützen würden (z. B. die US-amerikanische Standard Oil Company).227 Insbeson-
dere der Arbeiterwille wandte diese Technik an, sodass er nachträglich als der dis-
ziplinierende „Wächter der Einheit“ schlechthin bezeichnet werden kann.228 Der
Missmut und die Unzufriedenheit konnten in Anbetracht der Zeit nicht größer
sein. Die Sparten der hinteren Zeitungsseiten sind voll von redaktionell überform-
ten und zum Teil wohl auch zur Gänze erfundenen Geschichten, in denen vielsei-
tige Sorgen und Probleme bezüglich der Ernährungs- und Versorgungslage zur
Sprache kamen. Hinzu kam noch, dass besonders der Arbeiterwille die Auflösung
des Grazer Gemeinderats anprangerte.229 Seiner Einschätzung zufolge könnte
224 Vgl. dazu auch: Leonhard (2014), 1002, 1007; Goebel (2014), 361; Triebel (2002), 428. Des Wei-
teren der Lexikonartikel „Schwarzmarkt (zeitgenössisch Schleichhandel)“ von Martin H. Geyer
in: Hirschfeld/Krumeich/Renz (22014), 1001–1002.
225 Als Beispiel für eine Vielzahl: Bekämpfung des Lebensmit[t]elwuchers, in: Grazer Mittags-Zei-
tung, 10.9.1914, 2.
226 Auf diese „Zinsgeier“ werde ich später eingehen. Vorläufig sei auf folgende Artikel verwiesen:
Die Hyänen des Krieges, in: Arbeiterwille, 11.8.1914 (Abendausgabe), 3; Hausherrenhyänen,
in: Arbeiterwille, 23.8.1914, 5; Graz, in: Arbeiterwille, 26.8.1914 (Abendausgabe), 4; Gegen die
Preistreibereien der Mehl- und Getreidegroßhändler, in: Arbeiterwille, 24.9.1914, 2. Diese Politik
betrieb, wie gesagt, nicht nur der Arbeiterwille, vgl. exemplarisch: Überschreitungen des von
k. k. Statthalterei vorgeschriebenen Preistarifes, in: Steiermärkisches Gewerbeblatt, 15.8.1914, 2.
227 Die Hyänen des Krieges, 13.8.1914 (Abendausgabe), 2.
228 Der sozialdemokratische „Hessische Volksfreund“ in Darmstadt nahm ebenfalls die Rolle eines
„Wächters des Burgfriedens“ ein, vgl. Stöcker (22014), 53, 66.
229 Gegen den Lebensmittelwucher, in: Arbeiterwille, 1.8.1914, 2.
Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Titel
- Graz 1914
- Untertitel
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Autor
- Bernhard Thonhofer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln- Weimar
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Abmessungen
- 17.4 x 24.5 cm
- Seiten
- 510
- Schlagwörter
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453