Seite - 290 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
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| Alltag und
Einheitsprüfungen290
nämlich nur der Gemeinderat den ungerechtfertigten Preissteigerungen wirksam
entgegentreten. Zu dieser Thematik sei abschließend erwähnt, dass im August die
„monolithische“ Feindfigur namens „Staat“ noch nicht präsent war.230
Als maßgebliche Gründe für den Andrang auf die Geschäfte und Märkte nannte
man vorwiegend die Angst und Sorge (zeitgenössisch: „Kriegsschrecken“231), dass
eine Lebensmittelverknappung bevorstehen könnte. Ferner nahmen viele Graze-
rinnen an, dass die Preise weiter steigen werden. Viele Frauen gingen davon aus,
dass, wenn sie nicht sofort die Waren kaufen würden, diese später teurer wären.
Dieses Zukunftsszenario hatte sowohl seine Berechtigung als auch auch seine Fol-
gen: „Alle Lebensmittelgeschäfte haben in den ersten Tagen der Aufregung einen
Ansturm zu bestehen gehabt wie nie zuvor.“232 Etwaige Gerüchte und Spekulationen
auf der Straße oder in der Presse halfen, dass diese Zukunftsvision an Breitenwir-
kung gewann. Die Vorstellung, dass eine zunehmende Lebensmittelverknappung
durchaus möglich ist, wurde zu Kriegsbeginn nicht nur in den Gast- und Kaffee-
häusern sowie in der Presse diskutiert, sondern auch vom Allgemeinen Grazer
Spar- und Konsumverein in Aussicht gestellt. Seit der österreichisch-ungarischen
Kriegserklärung an Serbien verzeichnete dieser genossenschaftliche Verein „einen
regelrechten Ansturm auf“ seine Verkaufsstellen, „den das Verkaufspersonal kaum
bewältigen konnte.“233 Ähnlich erging es der vereinseigenen Steiermärkischen Ar-
beiterbäckerei in Eggenberg, die Ende Juli einen permanenten Brotverkauf ein-
richtete. Bereits am 27. Juli ließ der Verein seinen Delegierten via Arbeiterwillen
ausrichten, dass die Warenversorgung in den einzelnen Filialen voraussichtlich „in
der nächsten Zeit [...] nicht so glatt vor sich gehen“ werde wie in Friedenszeiten.234
Und einen Tag nach der Kriegserklärung an Serbien, am 29. Juli, verkündete der
Konsumverein, dass „in den nächsten Tagen Störungen der Brotzustellung in den
Verkaufsstellen eintreten können“.235 Diese negativen Zukunftsvorstellungen ent-
spannten nicht die Ernährungs- und Versorgungsfrage. Sie entsprachen vielmehr
dem Erwartungshorizont vieler Grazerinnen und Grazer. Ferner führte das Wis-
sen um die schlechten Ernteergebnisse und die unübersehbaren Heeresablieferun-
gen sowie die Erfahrung, dass es „unpatriotische“ Kaufleute und Zwischenhändler
230 Zu den Feindfiguren in der Steiermark (1914–1918) vgl. vor allem: Moll (2010); (2007a) und
(2004c).
231 Kriegszeit, in: Grazer Beamten-Zeitung, 25.8.1914, 1.
232 Der Grazer Konsumverein an seine Mitglieder, in: Arbeiterwille, 15.8.1914, 8.
233 Ansturm auf die Geschäfte des Grazer Konsumvereines, in: Arbeiterwille, 29.7.1914, 3.
234 Der Grazer Konsumverein und die Kriegsvorbereitungen, in: Arbeiterwille, 27.7.1914 (Abend-
ausgabe), 3.
235 Ansturm auf die Geschäfte des Grazer Konsumvereines, in: Arbeiterwille, 29.7.1914, 3.
Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Titel
- Graz 1914
- Untertitel
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Autor
- Bernhard Thonhofer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln- Weimar
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Abmessungen
- 17.4 x 24.5 cm
- Seiten
- 510
- Schlagwörter
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453