Seite - 294 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
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| Alltag und
Einheitsprüfungen294
auch nicht mehr ihre Marktbänke aufzustellen, zumal es bereits zu Handgreiflich-
keiten kam. Dies führte zu einem erhöhten Aufgebot an Sicherheitsleuten auf den
betreffenden Märkten. Mitte April mussten auch vor der großen Bäckerei Steiner
in der Mariengasse zwei Soldaten positioniert werden.254
Der Krieg stellte für den Einzelhandel eine große Unsicherheit dar. Niemand
konnte nur annähernd abschätzen, wie es um die Zukunft des eigenen Ladens
bestellt war.255 Muss man einrücken? Muss einer der Gesellen einrücken? Kann
man sich einen Lehrling leisten? Muss man den Betrieb zusperren?256 Viele der
Gewerbetreibenden versuchten daher so viele Waren wie nur möglich von den
Zwischenhändlern zu kaufen. Es fand sich in den Zeitungen sogar ein Vorfall, wo
– laut Arbeiterwille – „Händler“ sämtliche Äpfel, die am Lendplatz zum Verkauf
angeboten wurden, kauften.257 Die Tagespresse missbilligte diese Praktiken aufs
Schärfste.258 Der Grazer Beamten-Wirtschaftsverband kritisierte diese Methoden
ebenso. Das geht nicht zuletzt aus seiner eigenen Zeitung – der Grazer Beamten-
Zeitung – hervor:
„Unsere Warenausgabestelle hat den ganz unerwarteten ersten Ansturm, den der Kriegs-
schrecken brachte, zu überstehen gewußt. Nicht ohne Schwierigkeit und nicht ohne
Klage! Man bedenke, daß der Kriegszustand ganz plötzlich hereinbrach, daß sofort die
ganze Warenzufuhr unterbunden war, daß die Heeresverwaltung genötigt war, alle vor-
handenen Lebensmittelvorräte mit Beschlag zu belegen und daß unsere Mitglieder –
auch solche, die bisher dem Verbande ziemlich ferne standen – plötzlich ihren Bedarf
254 Brot- und Mehlverteilung unter militärischer Aufsicht, in: Arbeiterwille, 15.4.1915 (Abendaus-
gabe), 2: „Bei der Bäckerei Steiner in der Mariengasse wurde bei der heutigen Mehl- und Brotaus-
gabe eine Neuerung eingeführt. Um das Andrängen der kaufenden Frauen in ‚geordnete Bahnen‘
zu lenken, wurden am Eingange des Geschäftes zwei Soldaten aufgestellt, die die Frauen nur
einzeln ins Geschäft ließen, während beim Haustor (Ausgang) ein Soldat mit aufgepflanztem
Bajonett positioniert war.“
255 Allgemeines zum städtischen Kleinhandel während des Ersten Weltkriegs in: Lawrence (1999);
Bonzon (1999).
256 Das Bäckergewerbe und das Fleischergewerbe durften rein rechtlich gesehen nicht nach Belie-
ben ihre Betriebe und Läden schließen. Sie mussten die (angedachte) Betriebseinstellung vier
Wochen vorher bei der Gewerbebehörde anzeigen. Vgl. dazu auch: Kundmachung der k. k. stei-
ermärkischen Statthalterei, betreffend die Betriebspflicht bei den Bäcker- und Fleischergewerbe,
in: Amtsblatt der landesfürstlichen Hauptstadt Graz (31.7.1914), 381.
257 Achtung, Hausfrauen!, in: Arbeiterwille, 12.8.1914, 3.
258 Auch in Deutschland hielten einige Gewerbetreibende Waren zurück, vgl. exemplarisch die Stu-
dien von: Roerkohl (1991), 68; Geinitz (1998), 240–250.
Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Titel
- Graz 1914
- Untertitel
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Autor
- Bernhard Thonhofer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln- Weimar
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Abmessungen
- 17.4 x 24.5 cm
- Seiten
- 510
- Schlagwörter
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453