Seite - 298 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
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| Alltag und
Einheitsprüfungen298
bieten würden, sah sich Hans Pock, der Vorstand der Grazer Bäckerinnung und
Obmann der steirischen Landesgenossenschaft der Bäcker, dazu gezwungen, eine
klärende Pressemitteilung auszusenden. In dieser wies Pock alle Vorwürfe zurück
und betonte, dass die „Anklagen gegen kleine Leute“, wie den Bäcker oder den
Müller, unangebracht sind.272 Als „Urheber“ der „Preistreiberei“ nannte Hans Pock
hingegen explizit das (ungarische) Veszprémer/Weißbrunner Domkapitel. Die
Rechtfertigung der Bäckerinnung beinhaltete daher sowohl ein Zurückweisen der
Anschuldigungen gegen einige Bäckereien und Mühlen als auch traditionelle Sei-
tenhiebe gegen Ungarn. In den ersten Kriegsmonaten lassen sich somit drastische
Konfliktlinien innerhalb der Stadt Graz und Schuldzuweisungen gegen die unga-
rische Reichshälfte greifen. Vom Stigma des „Wucherers“ oder „Kriegsgewinnlers“
waren nicht bloß diverse Läden, Marktbänke, Uniformierungsanstalten und Bä-
ckereien betroffen. Diejenigen Grazer Gasthäuser, die ihre Kundschaft „prellten“,
standen ebenfalls heftig in Kritik. So meldete zum Beispiel ein Gastwirt in der
Annenstraße dem Arbeiterwillen, dass er jene Kellnerin, die Soldaten verteuertes
Essen und Bier verrechnete, entlassen habe.273 Private Pressezuschriften wie diese
untermauern die Ansicht, dass viele Grazerinnen und Grazer sich dazu gezwun-
gen sahen, sich öffentlich von jedweden Formen des Einheitsbruchs zu distanzie-
ren. Denn es ärgerte die Presse, wenn Soldaten „übervorteilt“ (sprich „geprellt“/
„überhaltet“) oder sonst wie bestohlen wurden.274 Mitte August wies beispielsweise
das Tagblatt darauf hin, dass sich am Hauptbahnhof ein „lichtscheues Gesindel“275
herumtreibe. Dabei handelte es sich „meist der Schule kaum entwachsene Bürsch-
chen“, die „im Menschengewühle“ nicht zuletzt Reservisten bestehlen würden.276
Von gesellschaftlicher Eintracht im Rahmen des in den Leitartikeln teils postulier-
ten Burgfriedens ist hier – wie im Falle der Handgreiflichkeiten auf den Märkten
und in den Geschäften – wenig zu spüren.
272 Bäcker und Müller sind die Prügelknaben der Brotteuerung, in: Grazer Tagblatt, 15.10.1914
(2. Morgenausgabe), 4.
273 Lebensmittelwucher an Soldaten, in: Arbeiterwille, 7.8.1914, 3.
274 Vgl. auch den Artikel: Lebensmittelwucher an Soldaten, in: Arbeiterwille, 2.8.1914, 4. Siehe dazu
eine Kundmachung der Statthalterei, in der man die „Übervorteilung“ der Soldaten anprangerte
und daran erinnerte, dass Preise deklariert werden müssen: Hintanhaltung der Übervorteilung
der Truppen, in: Grazer Volksblatt, 29.7.1914, 5.
275 Lichtscheues Gesindel im Vorraume des Hauptbahnhofes, in: Grazer Tagblatt, 18.8.1914 (Abend-
ausgabe), 2.
276 Ebd.
Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Titel
- Graz 1914
- Untertitel
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Autor
- Bernhard Thonhofer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln- Weimar
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Abmessungen
- 17.4 x 24.5 cm
- Seiten
- 510
- Schlagwörter
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453