Seite - 304 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
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| Alltag und
Einheitsprüfungen304
Kriegszeit ein unübersehbares Alltagsmoment, das unweigerlich den Ernst des
Kriegs symbolisierte und in den Köpfen der Menschen wachhielt. Jede Kriegser-
klärung und sämtliche staatliche Kriegsverordnungen schufen für die Grazerinnen
und Grazer Klarheiten und Unklarheiten zugleich. Der Andrang auf das Amts-
haus, auf die Postämter, auf die Geschäfte, auf die Märkte, auf die Geldinstitute, auf
die Arbeitsvermittlungsstelle und der Andrang auf die Sakralbauten waren eine
Folge davon. Ein Ort, wo man im Stillen nachdenken konnte, war rar. Die Kir-
chen blieben selbst während der ersten „hektischen“ Mobilisierungsphase einer
der wenigen noch verbliebenen Ruhe- und Schutzenklaven. Und dieser Umstand
ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass sie – wenigstens für den Kirchgänger
und die Kirchgängerin – nahezu frei von Gewalt waren. Dass im August in der
Stiegenkirche (Sporgasse) ein Hauptmann mittels Schusswaffe Suizid beging, stellt
diesbezüglich eine Ausnahme dar.301 Zumindest findet sich in den Zeitungen kein
weiterer „Freitod“ eines Soldaten (oder eines Zivilisten) in einer Grazer Kirche
– sehr wohl aber an anderen Orten der Stadt.302 Ungeachtet dieses Vorfalls blie-
ben die Kirchen im Vergleich zu vielen anderen Orten der Stadt weitgehend frei
von physischer Gewalt. Die Kirchen stillten nicht nur das Bedürfnis nach Ruhe
und Schutz, sondern ihre Priester halfen den Menschen auch den Krieg – auf ihre
Weise – zu deuten und zu verstehen.
Seit Ende Juli sahen sich die katholischen und die beiden evangelischen Kirchen
mit dicht besetzten Kirchenbänken konfrontiert.303 Die Grazer Pfarrer zeigten sich
von diesem Andrang auf die Kirchen überrascht, zumal es in den Vorkriegsjahren
nur zu kirchlichen Fest- und Feiertagen volle Kirchenhäuser gegeben hatte: „Wo-
her sie alle kommen und ob es alle Gemeindemitglieder sind? Danach wollen wir
nicht fragen; Gott schickt sie uns und die Not der Zeit treibt sie uns zu, unsterbli-
che Seelen, die nach dem Brote des Lebens hungern.“304 Der Arbeiterwille konnte
den Kirchenandrang nicht einordnen. Der Redaktion war es obendrein unange-
nehm und unheimlich, dass viele der neuen Kirchgängerinnen und Kirchengeher
aus dem sozialdemokratischen Milieu kamen. Dies schlug sich in einigen Artikeln
nieder, in denen zwar nie der Kirchgang oder das Beten an sich angegriffen wur-
den, aber in denen an das „wirklich“ Wesentliche erinnert wurde. Laut Arbeiter-
wille war das Wesentliche, dass man mit Taten und nicht mit Worten oder Beten
das Kriegsende herbeiführen solle. Die Kritik an dem aus seiner Sicht ineffizien-
301 Lebensüberdruß eines Hauptmannes, in: Grazer Tagblatt, 7.8.1914, 9; Durch einen Kopfschuß
den Tod gefunden, in: Grazer Volksblatt, 7.8.1914, 6.
302 Siehe das Kapitel: Soldaten abseits der Truppe.
303 Vgl. nur: Die Sturm-Novene, in: Grazer Volksblatt, 20.8.1914, 7.
304 Unsere neue Kirche, in: Grazer Kirchenbote, 1.9.1914, 73.
Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Titel
- Graz 1914
- Untertitel
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Autor
- Bernhard Thonhofer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln- Weimar
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Abmessungen
- 17.4 x 24.5 cm
- Seiten
- 510
- Schlagwörter
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453