Seite - 306 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
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| Alltag und
Einheitsprüfungen306
kinder, die gedankenlos in den Tag hineinlebten und nur an Zerstreuung dachten. Mit
einemmal [sic] empfinden sie ein Bedürfnis der Sammlung. Da sind Spötter, die ihr
klein bißchen Erfahrung für Weisheit hielten und nun an sich irre werden. Da sind die
vielen, die bescheiden im engen Kreis täglicher Pflichterfüllung ihr Genüge fanden und
kein Verlangen nach Anteil am Weltgeschehen trugen: auch sie sind aufgeschreckt, Not
lehrt sie beten. Und also erfüllt sich zum Teil das Sehnen der Kirchengläubigen. Aber der
größere Teil der Volksgenossen hält es mit dem Wirken. Tätig sein ist ihnen Gebet. Und
gewiß zeugt werktätige Menschenliebe auch und erst recht von einer höheren Religion
als verzweifelndes Ringen im Gebet oder gar Lippengeplärr. Die religiös indifferente
Frau aus der bürgerlichen Klasse, die Gelder zur sozialen Hilfstätigkeit flüssig macht und
selbst mit Hand ans Werk legt, steht sittlich hoch über der frommen Dame, die ängstlich
ihre Schätze im Banktresor verbirgt, aber die Knie auf der Kirchenbank wund rutscht.
Die Arbeiterfrau, die über Betschwestern höhnt, während sie rüstig für die Organisa-
tion der Kinderhilfe oder in irgendeinem Zweig der Hilfsaktion schafft, läßt christliche
Lehren leben und Tat werden. Und gar das Weib des Proletariers im Waffenrock, die
das Kunststück vollbringt, mit wenigen Groschen den Haushalt durchzubringen und
der Kinder ewig hungernde Mäuler zu stopfen, sie ist die Heldin unserer Zeit. Ists und
bleibts, auch wenn der schreckliche Krieg ihr Flüche entreißt, bleibt es erst recht, wenn
ein wilder Paroxismus der Verzweiflung und Wut aus ihr bricht, sobald die Kunde vom
Schlachtentod des Gefährten im Lebenskampf zu ihr dringt – und wenn sie dann doch
zu ihren Kindern steht, um den Halbwaisen auch den Vater zu ersetzen. Schrecklich, was
über unser Volk hereinbrach. Wer im Gebet Stärkung findet, mag sich stärken. Die im
Klassenkampf geschulten Arbeiter und Arbeiterfrauen aber halten es mit dem Wirken.
Sie seufzen und zerquälen sich nicht. Sie fluchen den Schuldigen, und die Erfüllung ihres
Fluches bringt ein furchtbares Gericht!“307
Abseits der regulären Messen und des Beichtdiensts wurden Kriegsbetstunden ab-
gehalten und Kriegstrauungen (z. B. in der Garnisonskirche308) durchgeführt. In
den beiden evangelischen Kirchen – der Heilandskirche (Kaiser-Josef-Platz) und
der im Mai 1914 eingeweihten Kreuzkirche (Volksgarten) – fanden die Kriegsbet-
stunden zum Beispiel abwechselnd jeden Mittwochabend statt.309 Zusätzlich blie-
ben aufgrund des Andrangs ihre Türen unter der Woche bis 17
Uhr offen. Auch die
katholischen Pfarr- und Klosterkirchen richteten – wie man dem Verordnungsblatt
307 Beten und Wirken, in: Arbeiterwille, 18.8.1914, 3.
308 Trauungen, in: Grazer Tagblatt, 11.8.1914 (Abendausgabe), 2.
309 Bericht des Presbyteriums der evangelischen Pfarrgemeinde A. u. H. B., Graz, linkes Murufer
über das Jahr 1914 (1915), 6.
Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Titel
- Graz 1914
- Untertitel
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Autor
- Bernhard Thonhofer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln- Weimar
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Abmessungen
- 17.4 x 24.5 cm
- Seiten
- 510
- Schlagwörter
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453