Seite - 319 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
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Verlustlisten | 319
der turbulent verlaufenden Militäroffensiven keine sorgfältig zusammengestellten
Zahlen bezüglich der eigenen Verluste vorlegen konnte. Schlussendlich verzeich-
nete die k. u. k. Armee in den ersten Kriegsmonaten die höchsten monatlichen
Todesraten.371 Damals wusste dies aber niemand von den Grazerinnen und Grazer.
Die Verlustlisten mussten regelmäßig von den Militärbehörden richtiggestellt wer-
den. Diese Richtigstellungen wurden auch von den Zeitungen gedruckt. Am Ende
waren sie voll von Schlagzeilen, wie „Richtigstellung“, „Ergänzungen und Berichti-
gungen zu den Verlustlisten 8 bis 15“ oder „Ergänzung und Berichtigung“.372 Der-
artige Richtigstellungs-Artikel wurde seit Ende August gedruckt und sie blieben
(jedenfalls) bis zum Jahresende ein fixer Bestandteil der Grazer Zeitungen. Die-
jenigen, die lesen konnten, gingen daher nicht nur zu den Behörden oder zu den
anderen Orten, wo man die langen Listen einsehen konnte, sondern sie lasen auch
die auf den Behörden den Listen beigelegten sowie die in der Presse abgedruck-
ten (offiziellen) Richtigstellungen. Im Endeffekt trugen daher die fehleranfälligen
Listen und das notwendige Gros an Ergänzungen und Richtigstellungen zur viru-
lenten Ungewissheit und Unklarheit dieser Tage bei. Die ganze Problematik hin-
ter den Listen wurde von der Presse nicht verschwiegen. Mehrfach appellierte sie
daher an die Bevölkerung, bei der „Ueberbringung von Hiobsnachrichten größte
Vorsicht walten zu lassen.“373 Auf jeden Fall sollte man nicht gleich Suizid begehen,
denn es war schon des Öfteren vorgekommen, dass die „Hiobsnachrichten“ auf
„irrtümlich[en] Todesmeldungen“374 beruhten. Die Presse bemühte sich in meinen
Augen (zumindest bei dieser Thematik), so gut es ging, den Menschen ein klares
Bild von der Materie zu verschaffen. Der erste Schritt hierzu war sicherlich das
offen ausgesprochene Eingeständnis, dass die Listen fehleranfällig waren. Darüber
hinaus brachte die Presse mehrfach Hinweise, wie man die Verlustlisten richtig
lesen solle. Ähnlich wie im Falle der für viele Menschen unklaren Sprache der
Mobilisierungsplakate bemühte sich die Presse auch bezüglich der Verlustlisten
mehrmals um Aufklärungsarbeit. Alle diese publizistischen Hinweise verdeutli-
chen meiner Einschätzung nach den Mangel an Erfahrung mit den „Begleitum-
ständen“ von Krieg. Auf die Frage, wie man den Krieg an der „Heimatfront“ führen
müsse, gab es nämlich keine einheitliche Antwort. Mir geht es an dieser Stelle nicht
371 Eine Auflistung der Kriegsverluste pro Monat in: Rumpler/Schmied-Kowarzik (2014), 164 f.
372 Richtigstellung, in: Arbeiterwille, 15.10.1914 (Abendausgabe), 4: „In der Verlustliste Nr. 24 soll
es statt Spargler richtig Sprager Franz, JR. 47, 13. Komp., tot, heißen.“ Vgl. zudem: Ergänzungen
und Berichtigungen zu den Verlustlisten 8 bis 15, in: Grazer Tagblatt, 13.10.1914 (2.
Morgenaus-
gabe), 8; Ergänzung und Berichtigung, in: Arbeiterwille, 6.12.1914 (2. Ausgabe), 6.
373 Vorsicht beim Lesen der Verlustliste, in: Grazer Mittags-Zeitung, 12.10.1914, 4.
374 Irrtümlich tot gemeldet, in: Grazer Mittags-Zeitung, 3.10.1914, 2.
Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Titel
- Graz 1914
- Untertitel
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Autor
- Bernhard Thonhofer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln- Weimar
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Abmessungen
- 17.4 x 24.5 cm
- Seiten
- 510
- Schlagwörter
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453