Seite - 337 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
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Ausschreitungen | 337
und an Sonn- und Feiertagen 10
Uhr vormittags).460 Es besteht durchaus die Mög-
lichkeit, dass sich einige „gutgelaunte“ Personen im alkoholisierten Zustande ei-
nen folgenreichen „Jux“ erlaubten, indem sie scherzhaft „Hoch Serbien!“ riefen.
Ebenso ist es möglich, dass der Arbeiterwille der Tatsache, dass Alkoholeinfluss
ein Strafmilderungsgrund war, zu publizistischen Nachdruck verhelfen wollte.461
Folgt man dieser Annahme, so ist es nur verständlich, dass der Arbeiterwille mehr-
mals postulierte, dass „die meisten der wegen aufreizender Rufe festgenommenen
Menschen“ alkoholisiert waren.462 In der bürgerlichen Presse fand sich dagegen
nicht der Erklärungs- und Beschwichtigungsversuch, dass manche „Hoch-
Serbien!“-Rufer eigentlich aufrichtige, aber alkoholisierte „Patrioten“ gewesen
seien sollen. Meistens hieß es nur: „Die erregte Menge hatte [...
den ‚Serbenfreund‘
vor der Verhaftung] noch tüchtig durchgeprügelt.“463 Oder einfach nur: Ein Wach-
mann „mußte“ einen „Hoch-Serbien!“-Rufer schützen.464 Für die bürgerliche
Presse blieb die Legitimität des Zusammenschlagens so lange unangetastet, bis der
große Bogen ihrer Akzeptanz überspannt wurde. Dabei gilt es festzuhalten, dass
die bürgerliche Presse über keinen einheitlichen Akzeptanzrahmen verfügte.
Selbst in ein und derselben Tageszeitung konnte das Zusammenschlagen an dem
einen Tag als legitimer, weil „patriotischer“ Akt und an einem anderen Tag als ille-
gitimer Akt definiert werden, wenngleich erstere Form überwog. Meistens sprach
man nämlich von einer „wohlverdiente[n] Züchtigung eines serbenfreundlichen“
Menschen.465 Abseits der kleineren Schlägereien erreigneten sich, wie gesagt, auch
größere Ausschreitungen. In den ersten Kriegsmonaten kamen oft kleinere Solda-
tentrupps oder andere Sicherheitsorgane (mit dem Zug) am Bahnhof an, die einen
meist in der „Untersteiermark“ verhafteten „Serbenfreund“ nach Graz überstell-
ten. So wurden beispielsweise am 5. September zwei am Hauptbahnhof ankom-
mende „Serbenfreunde“ von der Gendarmerie mit einem Wagen in das Landwehr-
divisionsgericht überführt. Einige Zivilpersonen rannten in „ihrer Entrüstung [...]
dem Wagen nach und nur das energische Einschreiten eines starken Wacheaufge-
botes schützte die beiden Verhafteten vor einem Lynchgericht.“466 Immer wieder
lässt sich den Quellen entnehmen, dass sich entlang der Wegstrecke zwischen dem
460 Ebd.
461 Die „Trunkenheit“ schloss den Vorsatz aus, vgl. Czech (2010); Drda (1992).
462 Landwehrdivisionsgericht, in: Arbeiterwille, 3.10.1914, 5.
463 Verhaftung eines Serbenfreundes, in: Grazer Volksblatt, 1.8.1914, 4.
464 Begeisterte patriotische Kundgebungen, in: Grazer Volksblatt, 27.7.1914 (Sonderausgabe), 3.
465 Die wohlverdiente Züchtigung eines serbenfreundlichen Münchners, in: Grazer Volksblatt,
29.7.1914 (Abendausgabe), 2.
466 Stürmische Kundgebungen gegen Serbenfreunde, in: Grazer Volksblatt, 6.9.1914, 5.
Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Titel
- Graz 1914
- Untertitel
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Autor
- Bernhard Thonhofer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln- Weimar
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Abmessungen
- 17.4 x 24.5 cm
- Seiten
- 510
- Schlagwörter
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453