Seite - 352 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
Bild der Seite - 352 -
Text der Seite - 352 -
| Alltag und
Einheitsprüfungen352
um eine wirklich allumfassende „Verdeutschung“ der Alltags- und Schriftsprache.
Inwiefern beispielsweise der Grazer oder die Grazerin am Frühstückstisch zu den
altbekannten „Russen“ nun „Kronsardinen“ sagte528, lässt sich heute nicht mehr
bestimmen. Was die „eingedeutschten“ Speisekarten529 betrifft, so konnten sich seit
Ende September die Gast- und Kaffeehäuser mitunter an das kostengünstige Va-
demekum „Der deutsche Gasthof und die deutsche Küche“, das in einem Grazer
Verlag erschien, orientieren.530
Wirklich greifbar war die „Sprachbereinigung“ jedoch in den Namensände-
rungen diverser Grazer Kaffee- und Gasthäuser sowie kleinerer und größerer Ge-
schäfte. Zieht man allein die Zeitungen heran, finden sich dort mehrere Fälle von
Namensänderungen, die wenig verwunderlich von den bürgerlichen Schriftleitun-
gen sehr gelobt wurden.531 Der Friseur Robert Reinkober führte plötzlich den Na-
men „Kopfpflegestube“. Das „Casino de Paris“, das täglich Vorstellungen ab 1 Uhr
nachts anbot, hieß nun „Künstler Laube“. Das bei Wetzelsdorf gelegene Gasthaus
„Zum englischen Dachs“ hieß jetzt „Zum Dachs“. Das traditionsreiche Grazer
Ausstattungshaus „Englisches Haus“ nannte sich nun nur mehr „Emil Kraft & Co“.
Das „Maison Schwarz“ hieß nun „Modellhaus Schwarz“. Das Handschuhgeschäft
„Zur Stadt Paris“ spielte mit dem Gedanken, sich zukünftig „Zur Stadt Berlin“ zu
nennen, nannte sich dann aber doch „A. Hostnigg & Co“. Ähnliches galt für das
traditionsreiche „Grand-Hotel Wiesler“, von dem es zumindest hieß, dass es sich
bald in „Groß-Gasthof Wiesler“ umbenennen werde.532 Die Gründe, warum sich
beispielsweise eine Gastwirtin oder ein Geschäftsinhaber für eine Namensände-
rung entschied, oszillierten meines Erachtens zwischen „Patriotismus“, Konformi-
tätsdruck und der Angst vor einer Demolierung der eigenen Arbeitsstätte. Bezüg-
lich Letzterem sei in Erinnerung gerufen, dass es in Graz zwei konkrete Vorfälle
528 Keine „Russen“ mehr als Katerfrühstück, in: Grazer Tagblatt, 5.10.1914 (Abendausgabe), 4.
529 Verdeutschung der Speisekarten, in: Grazer Mittags-Zeitung, 19.8.1914, 3.
530 Das Verdeutschungsbüchlein „Der deutsche Gasthof und die deutsche Küche“, in: Grazer Tag-
blatt, 2.9.1914, 3.
531 Die folgenden Beispiele fußen auf: Wackere Haarschneider, in: Grazer Tagblatt, 6.9.1914, 3; Ver-
gnügungs-Anzeiger, in: Grazer Mittags-Zeitung, 3.11.1914, 4; Kein „englischer Dachs“ mehr!, in:
Grazer Tagblatt, 12.9.1914, 2; Firmaänderung, in: Grazer Tagblatt, 13.8.1914, 11; Nachahmens-
wert!, in: Grazer Tagblatt, 14.8.1914 (Abendausgabe), 2; Veränderungen im Lieferantenverzeich-
nis, in: Allgemeine Frauen-Zeitung (1914), Nr.
5, 5; Zur Stadt Paris [Annonce], in: Grazer Beam-
ten-Zeitung 25.6.1914, 9; Hostnigg & Co. [Annonce], in: Grazer Beamten-Zeitung, 25.9.1914, 15;
Zur Stadt Berlin, in: Grazer Tagblatt, 30.9.1914 (2. Morgenausgabe), 16.
532 Nachahmenswert!, in: Grazer Tagblatt, 14.8.1914 (Abendausgabe), 2. Ein Abriss über Anton
Wiesler, dessen Grand-Hotel infolge des Ausbleibens der Gäste in eine schwere Krise geriet, in:
Karner (22005), 73.
Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Titel
- Graz 1914
- Untertitel
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Autor
- Bernhard Thonhofer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln- Weimar
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Abmessungen
- 17.4 x 24.5 cm
- Seiten
- 510
- Schlagwörter
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453