Seite - 364 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
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| Alltag und
Einheitsprüfungen364
tismus“ in Graz mehrmals kleinredete, zog für seine Lokalanalysen (!) kaum den
Begriff „Verbrüderung“ heran. Dort, wo der besagte Begriff im Arbeiterwillen auf-
taucht, meint er „nur“ die „Verbrüderungen“ zwischen den „Nationen“ (innerhalb
eines Militärbündnisses). Diese wenigen „Verbrüderungsartikel“ wurden aber
nicht von der Redaktion selbst produziert. Sie stammten hauptsächlich aus der
Feder anderer (deutscher) Zeitungsredaktionen oder gingen auf Korrespondenz-
nachrichten zurück.594 Dort, wo der Arbeiterwille Formen des Zusammenhaltens
beschrieb, griff er fast ausschließlich auf den Begriff „Solidarität“ zurück. In einem
Oktoberartikel hieß es beispielsweise: „Hoch die Solidarität!“595 Der Arbeiterwille
sprach auch kaum von der „Nibelungentreue“. Vielmehr herrsche „zwischen
Deutschland und Österreich-Ungarn eine unzerstörbare Solidarität“.596 Ganz an-
ders verhielt es sich dagegen mit den bürgerlichen Zeitungen. Sie verwendeten oft
die Begriffe „Verbrüderung“ oder „Waffenbrüderschaft“.597 Das Gleiche gilt für die
Begriffe „Nibelungentreue“ und „Nibelungenfreunde“.598 Dass der Arbeiterwille
primär auf den Begriff „Solidarität“ zurückgriff und die bürgerlichen Zeitungen
hauptsächlich den Begriff „Brüderlichkeit“ heranzogen, irritiert wenig. Im Grunde
genommen entsprach dies ihrem (seit Jahrzehnten eingeübten) politischen Sprach-
haushalt. Der Begriff „Brüderlichkeit“ (auf franz. „fraternité“) kennt viele Varian-
ten und Assoziationen.599 In den vorangegangenen Jahrhunderten waren es haupt-
sächlich die jüdischen und christlichen Milieus, die den Begriff einsetzten. Der
Begriff „begleitete“ auch die Französische Revolution (1789). Unter dem Schlag-
wort „Freiheit – Gleichheit – Brüderlichkeit“ erfuhr er massiv an Breitenwirkung
und wurde zu einem (neuen) Gesinnungsbegriff, der letztendlich den politischen
Sprachhaushalt für einige Jahrzehnte mitprägte. Rund 50 Jahre später, als man sich
aus unterschiedlichen Gründen in weiten Teilen Europas erneut für die Kampf an
den Barrikaden entschied, rückte der Begriff „Brüderlichkeit“ erneut ins Zentrum
des politischen Begriffshaushalts. Während der „Märzrevolutionen“ von 1848 blieb
der Begriff „Brüderlichkeit“ weiterhin ein klassischer Gesinnungsbegriff, der je-
dem Milieu gleichermaßen zugänglich und verfügbar war. Ab der Mitte des
594 Vgl. nur: Gegen die Lügenfabrikation der Tripelentente, in: Arbeiterwille, 24.8.1914 (Abendaus-
gabe), 3. Man bezog sich hierbei auf die deutschsprachige „Prager Zeitung“ (Prag/Praha).
595 Fort von Herd und Heim, in: Arbeiterwille, 6.10.1914, 3, 4.
596 Der zweite Kriegsmonat, in: Arbeiterwille, 4.10.1914, 5.
597 Die Ankunft österreichischer und russischer Verwundeter in Krakau, in: Grazer Tagblatt,
31.8.1914 (Abendausgabe), 4; Die Waffenbrüderschaft, in: Grazer Tagblatt, 9.10.1914, 12.
598 Die Nibelungentreue, in: Grazer Tagblatt, 27.7.1914, 3; Die große Schlacht in Frankreich, in:
Grazer Tagblatt, 20.9.1914, 1.
599 Meine Äußerungen bezüglich der Begriffe „Brüderlichkeit“ und „Solidarität“ fußen auf: Schieder
(1972).
Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Titel
- Graz 1914
- Untertitel
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Autor
- Bernhard Thonhofer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln- Weimar
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Abmessungen
- 17.4 x 24.5 cm
- Seiten
- 510
- Schlagwörter
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453