Seite - 365 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
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Soldaten abseits der Truppe | 365
19. Jahrhunderts griffen die politisch linksstehenden Milieus immer weniger auf
den Begriff „Brüderlichkeit“ zurück. Gleichwohl sie ihn 1848 unentwegt einsetz-
ten, verschwand er in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend aus ih-
rem Politjargon. Ersetzt wurde er durch das Wort „Solidarität“. Das bürgerliche
Milieu blieb jedoch bei diesem Begriff. Es erstaunt daher wenig, dass zu Kriegsbe-
ginn 1914 der Arbeiterwille von „Solidarität“ (oder fehlender „Solidarität“) sprach,
während die anderen Zeitungsredaktionen von der „Brüderlichkeit“ oder „Bru-
derschaft“ schrieben. Für den Erwerb eines neuen Begriffshaushalts war schlicht
und ergreifend keine Zeit. Weder „verdeutschte“ man die „französischen“ Militär-
begriffe (Bataillon usw.), noch handelte es sich bei dem Begriff „Begeisterung“ um
eine neue Wortkreation. Vor diesem Hintergrund mussten die Redaktionen – wohl
oder übel – den Kriegseinbruch/Kriegsausbruch mit dem „alten“ und seit vielen
Jahren angewandten Sprachhaushalt bewältigen.600 Die „Verbrüderungen“ zu
Kriegsbeginn galten nicht nur als „Beweis“ für den vermeintlichen „Verteidigungs-
krieg“ oder als Zeichen der innerstaatlichen „Erneuerung“, sondern bezogen sich
auch auf vorangegangene Konfliktlinien zwischen dem Militär und der Zivilbevöl-
kerung. Zu nennen sind hier vor allem die gewaltsamen Zusammenstöße. Für
Graz kann diesbezüglich auf die national aufgeladenen Badeni-Unruhen (1897),
auf die „Teuerungsdemonstration“ (1911)601 sowie auf die „Septemberdemonstra-
tion“ (1903) verwiesen werden (siehe unten). Eines der letzten Vorkriegsbeispiele
ist das 25-jährige Stiftungsfest der katholischen Studentenverbindung „Carolina“
Mitte Mai 1913. Damals war es – wie fünf Jahre zuvor beim 20-Jahr-Jubiläum – zu
Straßenausschreitungen inklusive eines Militäreinsatzes gekommen, was eine
enorme Pressepolemik in den Grazer Tageszeitungen mit sich führte.602 Die (oben
angedeutete) „Septemberdemonstration“ fand am 20. September 1903, einem
Sonntag, statt. Bei dieser, von der Sozialdemokratie veranstalteten, Demonstration
kam es zu mehreren handgreiflichen Auseinandersetzungen zwischen den De-
monstranten (darunter einige Soldaten) mit anderen Personen, die am Straßen-
rand standen (darunter einige Soldaten). Die seit Tagen im Arbeiterwillen rekapi-
tulierten Demonstrationsparolen lauteten: „Keine Recruten, bevor sie nicht auch
Ungarn bewilligt!“, „Nieder mit dem Militär- und Civilabsolutismus!“ und „Her-
aus mit dem gleichen Wahlrecht!“603 Die Demonstration verlief vom Volksgarten
ausgehend über den Hauptplatz bis hin zum Korpskommando. Immer wieder kam
600 „Bewältigen“ im Sinne von: Es wurde berichtet, ausgeblendet, übertrieben, gefordert, ermahnt
und vieles mehr.
601 Kleinschuster (1978), 105, des Weiteren: Ardelt (1994), 44 f.
602 Vgl. die Polemik in den Grazer Tageszeitungen rund um den 15. und 16. Mai 1913.
603 Vgl. nur: Arbeiter! Heraus! Volksversammlung, in: Arbeiterwille, 20.9.1903, 1.
Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Titel
- Graz 1914
- Untertitel
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Autor
- Bernhard Thonhofer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln- Weimar
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Abmessungen
- 17.4 x 24.5 cm
- Seiten
- 510
- Schlagwörter
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453