Seite - 403 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
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Die „Soldatenspiele“ der Kinder | 403
sich dann am Ladentisch, wer „deutsch“ und wer „deutscher“ war, sprich wer die
„Volksausgabe“ und wer die teurere Ausgabe kaufte.
Die Presse beurteilte zuweilen die übrigen Freizeitbeschäftigungen der Kinder
und Jugendlichen. Vielfach sah man in ihren Aktivitäten auf der Straße oder in
den Parkanlagen einen „Beleg“ für den Verlust von „Ordnung“. Die Kinder und
Jugendlichen „trieben“ sich herum, lärmten herum, stahlen, rauchten, schossen,
töteten grundlos Tiere (meistens waren es Vögel), warfen Steine auf Autos813 und
Züge.814 Manche sprangen auch zum Spaß auf die Straßenbahn oder auf Autos
auf.815 Dieser für den eigenen Kriegseinsatz nicht förderlichen „Unordnung“ trat
man von Seiten der Presse entgegen. Erfolgreich war sie dabei nicht. In vielen Fäl-
len präsentierten sich die Artikel als explizite oder wie im folgenden Fall als impli-
zite Appelle an die Eltern (oder an das Lehrpersonal):
„Auffallend ist es, daß die Kinder unserer Vororteschule [in Waltendorf] sich bei weitem
auf der Straße anständiger und ruhiger benehmen als jene in der Stadt [Graz]. Hier sieht
man kein wüstes Raufen und Balgen sowie Herumstehen auf Fahr- und Fußwegen, son-
dern fast jedes der Kinder ist bestrebt, so schnell als möglich seine väterliche Behausung
zu erreichen.“816
Ob dem nun wirklich so war, sei dahingestellt. Es scheint aber durch, dass die „vä-
terliche Behausung“ für „Schutz“ und „Ordnung“ stand. Diese „Ordnung“ und die-
ser „Schutz“ (von Kindern) waren eigentlich für alle Tageszeitungen von enormer
Bedeutung, weil es ihrem allgemeinen Verständnis von „Familie“ und den damit
verbundenen Hierarchien (in puncto Geschlecht und Alterskohorte) entsprach.
Der Artikel steht auch exemplarisch für die im Allgemeinen sich verschlechternde
Beziehung zwischen der Stadt Graz und ihren „Vororten“. Es verschärfte sich daher
nicht nur der Konflikt zwischen den beiden Reichshälften oder der Konflikt zwi-
813 Laut Presse haben im September Jugendliche im Grazer „Vorort“ Andritz Schottersteine auf ein
Militärauto geworfen, vgl. nur: Steinwürfe gegen einen Militärkraftwagen, in: Grazer Tagblatt,
5.9.1914 (Abendausgabe), 3.
814 Anscheinend hatten Unbekannte Ende Dezember in der Nähe von Feldbach einen Militärzug
(mit verwundeten Soldaten) mit Steinen beworfen, vgl. u. a. den Artikel: Roh[h]eitsakt, in: Gra-
zer Volksblatt, 31.12.1914, 5. Ob es sich hier um Kinder und Jugendliche handelte, geht aus die-
sem Artikel nicht hervor. Ich verweise lediglich auf den Artikel, um zu zeigen, dass Steine nicht
nur auf Zivilzüge geworfen wurden.
815 Die tägliche Rubrik: Nicht aufspringen!, in: Grazer Mittags-Zeitung, 14.11.1916, 3. Für ein Bei-
spiel aus dem ersten Kriegsjahr vgl. Schwerer Unfall eines Knaben durch ein Auto, in: Arbeiter-
wille, 4.11.1914, 3.
816 Waltendorf. (Von der Schule.), in: Grazer Vorortezeitung, 27.9.1914, 2.
Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Titel
- Graz 1914
- Untertitel
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Autor
- Bernhard Thonhofer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln- Weimar
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Abmessungen
- 17.4 x 24.5 cm
- Seiten
- 510
- Schlagwörter
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453