Seite - 410 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
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| Alltag und
Einheitsprüfungen410
Presselandschaft.847 Dabei handelte es sich um Menschen, die den Bäuerinnen und
Bauern ihr Vieh, ihre Landwirtschaftsgeräte oder ihre Ernteerträge zu einem zu ge-
ringen Preis abkauften. Möglich wurden diese „faulen“ Geschäfte zuungunsten der
Landwirte mitunter deshalb, weil zur selben Zeit das Militär Requisitionen auf den
Bauernhöfen durchführte.848 Als Landwirtin oder Bauer musste man sich daher
entscheiden, ob man besser gleich Teile des Viehs, der Gerätschaft oder der Ernte
zu einem zu geringen Preis verkaufte oder ob man daran glaubte, dass man von
den Requisitionen verschont bleiben würde. Die „Furcht“849 oder Angst, dass man
den Hof nicht weiterführen könne, war letztlich weit verbreitet. Hervorgerufen
wurden diese sogenannten Güterzertrümmerungen von Jägern, Förstern und Zwi-
schenhändlern, die an die Bäuerinnen herantraten und diese zu billigen Verkäufen
überredeten. Dies gelang ihnen, weil die Bauernhöfe von Haus aus über nicht viel
Geld verfügten (dieses aber brauchten), weil viele ihrer Arbeitskräfte eingerückt
waren und weil einige der Bäuerinnen glaubten, dass der Mann bereits tot sei.850
Der Presse missfiel die Tatsache, dass einige „Bauernfänger“ die missliche Lage und
den geringen Handlungsspielraum der Bauernschaft ausnützten. Wenig hilfreich –
wenngleich gut gemeint – war es diesbezüglich, wenn die Presse auf der einen Seite
(tatsächlich falsche) Gerüchte über bevorstehende Tierrequisitionen zerstreute
und auf der anderen Seite tatsächlich bevorstehende Requisitionen ankündigte.
847 Im Folgenden beziehe ich mich vor allem auf: Verhaftung eines Bauernfängers, in: Grazer Tag-
blatt, 30.7.1914, 11; Bauernfänger, in: Grazer Tagblatt, 17.8.1914 (Abendausgabe), 3; Gegen die
Bauernfängerei, in: Arbeiterwille, 18.8.1914, 3; Verhaftung eines berüchtigten Bauernfängers,
in: Grazer Tagblatt, 25.8.1914 (Abendausgabe), 2; Achtung, Landleute!, in: Grazer Tagblatt,
3.10.1914 (Abendausgabe), 3; Gegen die Bauernfängerei, in: Arbeiterwille, 18.8.1914, 3; War-
nung an die Grundbesitzer, in: Grazer Volksblatt, 25.10.1914, 5.
848 Allgemeines zu den Konflikten zwischen den Behörden, dem Zwischenhandel und der Landbe-
völkerung in: Moll (2006a), 186, 188; Hansak (1991), 20.
849 Kundmachung der Statthalterei vom 14. August, in: Amtsblatt der landesfürstlichen Hauptstadt
Graz (31.8.1914), 400.
850 Bekämpfung der durch die Kriegsereignisse zu befürchtenden Güterzertrümmerungen, Erlass
der Statthalterei vom 27.11.1914, in: Verordnungsblatt der k. k. steiermärkischen Statthalterei
(9.12.1914), 421: „Den Kriegsereignissen ist bereits eine Reihe von bäuerlichen Grundbesitzern
zum Opfer gefallen und es dürfte auch die Zukunft noch manche Opfer fürs Vaterland erhei-
schen. Es ist zu besorgen, daß die zurückgebliebenen Witwen (beziehungsweise Kinder und
sonstigen Erben) unter dem unmittelbaren Eindrucke des Schicksalsschlages, von dem sie ge-
troffen wurden, den Besitz veräußern. Hie[r]zu dürften sie sich umso leichter entschließen, als
ihnen die Fortführung der Wirtschaft infolge des großen Mangels an männlichen Arbeitskräften
sehr schwer fallen wird. Diese Umstände werden nun zweifellos von Personen ausgenützt wer-
den, die den Besitz jetzt billig erstehen und dann nach Wiederkehr des Friedens porzellenweise
[sic] weiterverkaufen wollen.“
Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Titel
- Graz 1914
- Untertitel
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Autor
- Bernhard Thonhofer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln- Weimar
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Abmessungen
- 17.4 x 24.5 cm
- Seiten
- 510
- Schlagwörter
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453