Seite - 437 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
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Einheitsbrüche | 437
fügt, dass man der Anonymisierung des Getötetwerdens und der des Tötens an der
Front mittels personalisierter Verlustlisten bzw. personalisierter „Heldengeschich-
ten“ entgegensteuerte.50 Der Name an der „Heimatfront“ hatte abseits des Lobes für
„patriotische“ Spenden oder Ähnliches auch die Funktion, individuelles Fehlverhal-
ten öffentlich zu „brandmarken“. Und da man seinen Namen unbeschadet wissen
wollte, sahen sich viele Grazer Bürger und Bürgerinnen dazu genötigt, via Presse
diverse über sie kursierende Gerüchte zu zerstreuen. Etliche Grazer und Graze-
rinnen mussten sich durch richterlichen Beschluss öffentlich bei anderen Grazern
oder Grazerinnen entschuldigen, da sie Gerüchte über sie verbreitet hatten.
Der Krieg schuf daher nicht nur neue Formen der Anerkennung („Das hel-
denhafte, eiserne dritte Korps“51), sondern er erhöhte auch den Bekenntnis- und
Rechtfertigungsdruck jedes einzelnen Menschen. Warum bist du noch hier? Wa-
rum singst du nicht mit? Warum fahren Verwundete nicht gratis? Warum spenden
die Reichen weniger? Warum „prellt“ man Soldaten? Warum folgst du nicht den
Anweisungen der Wachposten? Warum darf der muslimische Soldat nicht neben
seinen katholischen „Kameraden“ bestattet werden?
All das sind Fragen52, auf die entweder in den vorherigen Kapitel eingegangen
wurde oder von denen weiter unten noch zu sprechen sein wird. Auf jeden Fall
zeugen diese – teilweise auf Unterstellungen beruhenden – Fragen von gewissen
Formen von Unverständnis, Missmut und Unzufriedenheit innerhalb der Bevöl-
kerung, weil viele Menschen auch nicht damit rechneten, dass sich der Alltag so
schnell und gravierend verändern würde, wie er es letztendlich tat. Die mehr auf
die individuellen Leiden der Menschen ausgerichteten Zukunftsszenarien des Ar-
beiterwillens trafen im Vergleich zu den anderen Grazer Zeitungsvorahnungen
noch am ehesten ein. Das, was sich aber dann wirklich in den ersten Kriegswo-
chen auf den Grazer Straßen, Märkten und Plätzen zutrug, brach mit allen im Juli
gezogenen Erwartungshorizonten. Der Mangel an einschlägigen Kriegserfahrun-
gen trat hier augenfällig zu Tage. Man muss sich nur in Erinnerung rufen, dass
bereits das Lesen der Mobilisierungsplakate Verständnisprobleme mit sich führte.
Und aus dem Strudel einer unerprobten allgemeinen Wehrpflicht und den ersten
Kriegsauswirkungen erwuchsen diverse Alltagssituationen, die die sozialen Kons-
tellationen innerhalb der Grazer Bevölkerung enorm strapazierten.
50 Zur Anonymisierung des Getötetwerdens und des Tötens: Leonhard (2014), 149–153.
51 Das heldenhafte, eiserne dritte Korps, in: Grazer Tagblatt, 21.11.1914 (Abendausgabe), 1.
52 Vgl. z. B. Wo sind die Millionenspenden? Eine Mahnung an die Reichen, in: Arbeiterwille,
11.9.1914, 3. Abseits des Arbeiterwillens vgl. die Dissertation von: Bachmann (1972), 144, 150.
Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Titel
- Graz 1914
- Untertitel
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Autor
- Bernhard Thonhofer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln- Weimar
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Abmessungen
- 17.4 x 24.5 cm
- Seiten
- 510
- Schlagwörter
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453