Seite - 442 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
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Schlussbetrachtung442
forderte, dass verwundete Soldaten gratis mit der Straßenbahn fahren sollten.61
Letztendlich kam es nicht zu einer Freifahrt für verwundete Soldaten (jedenfalls
nicht zwischen September und Dezember 1914). Das verärgerte diejenigen, die
– wie Alfred von Schrötter (Kunstprofessor des Steiermärkischen Kunstvereins)62
– mehrmals dafür eintraten.
Das Abschätzen und Suchen der Gefahren und Feinde war im Großen und
Ganzen kein Gemeinschaftsprojekt, sondern es musste in der Regel von jeder Per-
son selbst erfolgen. Ebenso wurde man von anderen geprüft und in nicht weni-
gen Fällen auch für tatsächlich oder unterstelltes renitentes Verhalten bestraft.63
Zu nennen wären hier die Verhaftungen, Hausdurchsuchungen, Einvernahmen
und Vereinssistierungen durch die Grazer Behörden. Ferner das gerichtlich ver-
ordnete Schalten von „Ehrenerklärungen“. Gleichzeitig gab es eine ganze Reihe
„außerrechtliche“ Gewaltformen von Seiten der Soldaten (abseits der Truppe), der
militärisch bzw. hierarchisch organisierten Verbände sowie vieler Zivilpersonen.
Maßgeblich zum Tragen kamen hierbei die Ausschreitungen („Lynchjustiz“), das
Demonstrieren vor Geschäften, das Verbreiten von Gerüchten, das Denunzieren,
das Boykottieren oder die Stichwaffenattacke.64 Die Kinoprogramme, die Freibäder
oder der Zirkus bestanden hingegen die Einheitsprüfung. Gleichwohl verging kein
Tag, an dem nicht von Auseinandersetzungen zwischen zwei Soldaten, zwischen
einem Soldaten und einer Zivilperson oder zwischen zwei Zivilpersonen berichtet
wurde. Die Zeitungen waren durchzogen mit diesen – teils auf Behördenmaterial
fußenden – Kurzartikeln und sie zeigen, dass von einem Burgfrieden im Sinne ei-
nes gesamtgesellschaftlichen Zusammenhaltens nicht die Rede sein konnte.
Der Anwendung von Gewalt musste nicht immer eine ausgeprägte Vorstel-
lung von „Einheit“ zeitlich vorausgegangen sein. Oft reichte bloß eine bestimmte
Alltagssituation aus, die Gewaltanwendung ad hoc (im Sinne von nicht vorsätz-
lich, sprich ungeplant, unangekündigt bzw. situativ) stimulieren konnte.65 Ebenso
folgte, wie oben angedeutet, nicht auf jeden wahrgenommenen Einheitsbruch ein
als „ordnungsherstellend“ empfundener Gewaltakt. Oft wurde man nur „scheel
61 Ein zeitgemäßes Ersuchen an unsere Straßenbahn, in: Grazer Tagblatt, 17.9.1914 (Abendaus-
gabe), 2.
62 Offener Sprechsaal, in: Grazer Tagblatt, 28.10.1914, 8; Offener Sprechsaal, in: Grazer Tagblatt,
17.11.1914 (2. Morgenausgabe), 5.
63 Aber nicht „ausgelöscht“.
64 Es handelte sich hierbei um mehrere Gewaltformen unterschiedlicher Quantität und Qualität.
65 Die (kleineren) Schlägereien und (größeren) Ausschreitungen sind hier zu nennen.
Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Titel
- Graz 1914
- Untertitel
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Autor
- Bernhard Thonhofer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln- Weimar
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Abmessungen
- 17.4 x 24.5 cm
- Seiten
- 510
- Schlagwörter
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453