Seite - 446 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
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Schlussbetrachtung446
bzw. den „Gestank“ als Motoren gesellschaftlicher Distinktion und Repräsentation
herausarbeiteten.78 Die militärisch anmutende Feindaufklärung und die weitläufig
dem technischen Bereich zugeordnete Früherkennung wurden zu Kriegsbeginn für
viele Grazerinnen und Grazer zentrale Kontroll- und Schutzmechanismen.
Das Auge schaute auf die Zeitung, auf die Kleidung, auf die Preistabellen, auf die
Sammelbüchse, aufs Firmenschild, auf die Armbinden, auf die Ausweise, auf die
Plakate, auf die Beglaubigungsscheine, ins Schaufenster sowie generell auf die Mit-
menschen. Das Ohr richtete sich auf das Gesagte bzw. auf das Gesungene. Nicht
nur auf der Straße oder auf dem Marktplatz hörte man auf das, was andere von sich
gaben, sondern auch in der Straßenbahn, im Gasthaus oder sonst wo. Wie sprach
jemand über den Kaiser? Über den verstorbenen Thronfolger? Was sagte jemand
über den Krieg? Über die Serben? Fatal wirkten sich hierbei die (gesetzlich geahn-
deten) Verbaldelikte aus. Auf diese Formen der Fremd- und Selbstüberwachung
gingen auch die Zeitungen regelmäßig ein:
„In einem Geschäfte der Herrengasse teilte ein junger Mann mit, daß er sich freiwillig
für die k.
u.
k.
Armee gemeldet habe. Ein Herr machte hierüber eine abfällige Äußerung,
die den lebhaften Unwillen der Augen- und Ohrenzeugen wachrief. Ein Dienstmann
erstattete von dem Vorfalle die Anzeige, worauf der Mann, der die abfällige Äußerung
getan hatte, an die städtische Sicherheitswache überstellt wurde.“79
Dass man aus dem Artikel nicht den Namen des Manns erfährt (vielleicht wusste
man ihn nicht), irritiert insofern, als dies nicht der (gängigen) Regel entsprach. Ein
anderes Beispiel: In einer Grazer Konditorei äußerte sich ein Mann abfällig „über
die österreichischen Uniformen“.80 Ferner gebrauchte er laut Arbeiterwille „eine
Redewendung [...], die als Ehrfurchtsverletzung vor dem Kaiser ausgelegt werden
müsse.“81 Es kam zu einer Gerichtsverhandlung. Dabei trat unter anderem ein
„Neurastheniker“, der „zweimal in psychiatrischer Behandlung“82 gewesen war, als
Zeuge auf. Am Ende verurteilte ihn das Landwehrdivisionsgericht wegen seiner
Majestätsbeleidung zu sechs Monaten schwerer Haft.83
78 Eine beeindruckende „Sinneszusammenschau“ bietet diesbezüglich: Chickering (2009), 249–301.
79 Die Folgen einer unüberlegten Äußerung, in: Grazer Tagblatt, 31.7.1914, 7.
80 Landwehrdivisionsgericht, in: Arbeiterwille, 7.11.1914 (Abendausgabe), 4.
81 Ebd.
82 Ebd.
83 Der Arbeiterwille erwähnte auch, dass der Mann ein Mitarbeiter des Tagblatts sei. Das Tagblatt
stellte am darauffolgenden Tag klar, dass der Mann bereits seit geraumer Zeit nicht mehr für das
Tagblatt arbeiten würde. Dies tat dann auch der Arbeiterwille, vgl. die Richtigstellungen: Eine
Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Titel
- Graz 1914
- Untertitel
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Autor
- Bernhard Thonhofer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln- Weimar
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Abmessungen
- 17.4 x 24.5 cm
- Seiten
- 510
- Schlagwörter
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453