Seite - 451 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
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Thesen | 451
der k. k. Landsturm (Bürgerkorps, Veteranenvereine, Grazer freiwilliges Radfah-
rerkorps, Grazer freiwilliges Motorfahrerkorps), die zivilen Bürgerwehren sowie
die politischen Kinder- und Jugendorganisationen. Auch sie gaben der geforderten
Konformität eine stabilisierende Basis von „unten“ sowie der „Einheit“ (dem Burg-
frieden) ein reales Gesicht auf den Grazer Straßen.
Der sozialdemokratische Arbeiterwille lehnte den Krieg mit Serbien (bis zum
31. Juli) strikt ab. Eine kategorische Kriegsgegnerschaft mittels der Parolen „Nie-
der mit dem Krieg! Generalstreik jetzt!“ erfolgte von ihm aber nicht. Auf der Straße
blieb ein einschneidender („lauter“) Widerstand gegen den Krieg oder gegen den
Staat aus. Lediglich diverse Einzelproteste lassen sich greifen. Graz bricht hier ein
weiteres Mal mit vielen Städten Deutschlands, in denen Ende Juli zahlreiche Frie-
densdemonstrationen stattfanden.
Ab Anfang August stand für die Grazer Presse die russisch-serbisch Kriegsver-
antwortung fest. Im Wesentlichen kolportierte man in den ersten Kriegswochen
nur einen Kriegsgrund und dieser lautete: „Verteidigung!“ Man „verteidigte“ die
Familie, die „Heimat“, das „Vaterland“, den Fortbestand der Monarchie oder prin-
zipiell die „Ehre“ des Staats.
Die Einheitsbildung war wirkmächtig, zumal sie vielfach und facettenreich ein-
gefordert, artikuliert und praktiziert wurde. Diese „Einheit“ zerbrach dennoch
schon lange vor Kriegsende. Im Prinzip war sie auf der Straße bereits von An-
fang an voll von Brüchen und Widersprüchen. Bedingt wurde dies durch die ge-
sellschaftliche „Ausgangslage“ und die diversen Formen der Alltagsbewältigung
rund um den Kriegsbeginn. Brüche in der „Einheit“ zeigten sich unverkennbar
durch das tägliche stigmatisierende, kriminalisierende sowie auf der Straße oft
gewaltsame Aufzeigen selbstdefinierter Grenzen dieser Einheit. Dabei konnte der
„Feind“ aus den gegnerischen Reihen stammen („Spione“, „Saboteure“, Zivilinter-
nierte, Flüchtlinge sowie „Zigeunerbanden“) oder in den eigenen Reihen identi-
fiziert werden („Lebensmittelwucherer“, „Profitpatrioten“, „Zinsgeier“, „Hyänen“,
„Zivilstrategen“, „Wirtshauspatrioten“, „Bauernfänger“, „Milchpantscher“, „Ser-
benfreunde“, „Diebe“, „Schwindler“, „Drückeberger“).
Das tägliche Fragen und Abschätzen, wer ein Feind ist und wer nicht, wo die
Front verläuft und wo nicht, wurde eine wesentliche und erst zu erlernende All-
tagsqualifikation. Das Antrainieren dieser Alltagsqualifikation stellte eine der
wichtigsten Reaktionen auf den Kriegsbeginn dar. Letzten Endes wurden sämtli-
che Alltagserscheinungen auf ihre „Einheitstauglichkeit“ geprüft. Nicht alle Men-
schen bestanden diese sogenannten Einheitsprüfungen. Und einige Male fielen die
Einheitsprüfungen für ein und denselben Sachverhalt – für ein und dasselbe All-
tagsmoment – unterschiedlich aus. Dem war so, weil es nicht das eine „Gesetz“ der
Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Titel
- Graz 1914
- Untertitel
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Autor
- Bernhard Thonhofer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln- Weimar
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Abmessungen
- 17.4 x 24.5 cm
- Seiten
- 510
- Schlagwörter
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453