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Das Zentrum formiert sich 49
Die spezifische Experimentalkultur war nicht auf den Exner-Kreis beschränkt. Eine
ähnlich positivistische Kultur des Experiments findet sich auch in den französischen
Naturwissenschaften.94 Dies galt vor allem für die im Wesentlichen in Paris konzent-
rierte Radioaktivitätsforschung. Marie Curie nahm eine ähnlich theorieferne Haltung
gegenüber dem Phänomen Radioaktivität ein wie die meisten ihrer Kollegen und
Kolleginnen in Österreich. In Manchester suchte Rutherford hingegen schon früh die
atomare Struktur modelltheoretisch zu erfassen und sein Experimentalsystem daran
auszurichten.95
Bei den Schülern Exners war die Liebe zum Experiment verbunden mit einem au-
ßerordentlichen Geschick, Instrumente und Messapparaturen zu konstruieren. Dies
machte sie zu begehrten Kooperationspartnern für die gerade erst im Entstehen begrif-
fene Radiumindustrie Österreich-Ungarns. Meyer, Schweidler und andere Wiener
Physiker begleiteten die Atzgersdorfer Radiumerzeugung nicht nur wissenschaftlich,
sie nahmen auch kontinuierlich Messungen vor und trugen dazu bei, den industriellen
Produktionsprozess zu optimieren. Indem sie Messinstrumente konstruierten und da-
mit relativ verlässliche radioaktive Messdaten sammelten, empfahlen sich einige Mit-
glieder des Kreises schon bald dafür, auch in Fragen der radioaktiven Metrologie und
Nomenklatur mitzureden. Wie zu zeigen sein wird, avancierten mehrere Schüler Ex-
ners schon vor Beginn des Ersten Weltkriegs zu international anerkannten Koryphäen
in Fragen der radioaktiven Metrologie und Nomenklatur.
2.3 Das Zentrum formiert sich
2.3.1 Gründung des Instituts für Radiumforschung
Die frühen Arbeiten Stefan Meyers und Egon von Schweidlers wären ohne die aus dem
Ausland entliehenen radioaktiven Präparate nicht möglich gewesen. Das von Exner
geleitete Physikalisch-Chemische Institut verfügte über einen starken Elektromagneten
und dank der Leihgaben Giesels und der Curies auch über relativ starke radioaktive
Strahlungsquellen für ihre Ablenkungs-Experimente. Die Initiative der Akademie, eine
größere Menge Radium in Atzgersdorf produzieren zu lassen, machte vor allem die in
Wien tätigen Radioaktivisten und Radioaktivistinnen unabhängiger von den Leih- und
Tauschgeschäften innerhalb der Wissenschaftsgemeinschaft und entband sie von der
Notwendigkeit, Präparate am Markt zu erwerben. Die Akademie reagierte mit ihrem
Vorstoß auf die Begehrlichkeiten der Curies, die sich anders als ihre Kollegen in Öster-
94 Vgl. Davis 1995, 329.
95 Vgl. Hessenbruch 2000 ; Burcham 1998. Siehe auch Rutherford 1911, 18–20 ; Rutherford/Soddy 1902.
Kerne, Kooperation und Konkurrenz
Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Titel
- Kerne, Kooperation und Konkurrenz
- Untertitel
- Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Autor
- Silke Fengler
- Herausgeber
- Carola Sachse
- Mitchell G. Ash
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-79512-4
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 380
- Schlagwörter
- Institute for Radium Research, nuclear research in Austria, History of science, National Socialism, The Cold War --- Radiuminstitut, Kernforschung in Österreich, Wissenschaftsgeschichte, Nationalsozialismus, Wissenschaftskooperation, Kalter Krieg
- Kategorien
- Naturwissenschaften Chemie
- Naturwissenschaften Physik
Inhaltsverzeichnis
- 1. Kernforschung in Österreich im Spannungsfeld von internationalerKooperation und Konkurrenz 9
- 2. Österreich-Ungarn und die internationale Radioaktivitätsforschung, 1899–1918 30
- 3. Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung, 1919–1932 93
- 3.1 Die Naturwissenschaften in Österreich nach 1918 94
- 3.2 Das regionale Netzwerk festigt sich 97
- 3.3 Das Zentrum (re-)formiert sich 109
- 3.4 Das Zentrum in Aktion : Atomzertrümmerungsforschung als internationales Projekt 140
- 3.5 Die Anfänge der Atomzertrümmerungsforschung als Geschäft der Reichen 176
- 4. Kernforschung in Österreich, 1932–1938 178
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 4.1.1 Neue Standards für die Internationale Radiumstandard- Kommission 179
- 4.1.2 Neue Mitglieder für die Internationale Radiumstandard- Kommission 182
- 4.1.3 Der Ruf nach höchsten Spannungen in der internationalen Kernphysik 185
- 4.1.4 Die Wiener Reaktionen 190
- 4.1.5 Das Polonium-Netzwerk im Dienst der Neutronenforschung 193
- 4.1.6 Höhenstrahlungsforschung zwischen Peripherie und Zentrum 200
- 4.2 Das Zentrum verliert den Anschluss 206
- 4.3 Kernforschung in Österreich als nationales Projekt 226
- 4.4 Wüstentrockenheit auf dem Gebiet der Atomzertrümmerung 234
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 5. Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«, 1938–1945 236
- 6. Kernforschung für die Alliierten – ein Epilog 307
- 7. Schluss 322
- 8. Anhang 334
- Abkürzungsverzeichnis 334
- Verzeichnis der benutzten Archivbestände 336
- Literaturverzeichnis 340
- Personenregister 369