Seite - 185 - in Kerne, Kooperation und Konkurrenz - Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
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Das Zentrum behauptet sich 185
im Februar 1938 wählten sie fast einstimmig den langjährigen Sekretär Stefan Meyer
zum neuen Präsidenten. Der trat sofort in Aktion : Da Meyer auf dem Feld der künst-
lichen Radioaktivität »eine gewisse Beruhigung« zu erkennen glaubte, forderte er seine
Kolleginnen und Kollegen auf, die neuen Tabellen der Zerfallskonstanten gemeinsam
zu erstellen. Auch regte er an, endlich die Nomenklaturfragen zu klären :
»Jedermann und jede Körperschaft hat natürlich das Recht Vorschläge zu machen und an-
derseits kann niemand gezwungen werden Vorschläge anzunehmen, […]. Aber oft fehlt nur
die Initiative IRGENDEINER Körperschaft, um Ordnung zu machen und ich glaube unsere
Kommission täte damit ein gutes Werk und hätte auch die nötige Autorität dazu.« 32
Mit der Wahl Meyers zum Präsidenten hatte ein Vertreter aus Österreich den Zenit an
Einflussmöglichkeit in der internationalen Radioaktivistengemeinschaft erreicht. Da-
mit trug die Kommission dem langjährigen Engagement Meyers in Fragen der Metro-
logie und Nomenklatur radioaktiver Zerfallsprozesse Rechnung. Allerdings war die
Radioaktivitätsforschung im grundlegenden Wandel begriffen, dem die Kommission
in den 1930er Jahren nur ansatzweise folgen konnte.
4.1.3 Der Ruf nach höchsten Spannungen in der internationalen Kernphysik
Wie eingangs erwähnt, veränderten die kernphysikalischen Entdeckungen zu Beginn
der 1930er Jahre die bisherige experimentelle Atomzertrümmerungsforschung von
Grund auf. Einerseits gewannen Neutronen, also ungeladene Teilchen, als Strahlungs-
quellen für künstlich erzeugte Kernreaktionen gegenüber geladenen Teilchen (α-Teil-
chen, Protonen, Deuteronen) an Bedeutung.33 Andererseits wurde die künstliche Er-
zeugung radioaktiver Teilchen immer wichtiger : Die Radioaktivitäts- und Atomzer-
trümmerungsforschung hatte bisher vor allem Strahlungsquellen auf Basis natürlicher
Radioaktivität verwendet. α-Strahler waren bis 1932 die einzigen Energiequellen, die
bei der Atomzertrümmerungsforschung eingesetzt wurden. Die natürlichen Strah-
lungsquellen bestanden entweder aus Polonium oder aus den Zerfallsprodukten des
Radiums, die als sehr rein galten, aber noch kurzlebiger als Polonium waren und oft
γ-Strahlen aussandten, die das Messergebnis störten.34 Ihre Leistungsfähigkeit war auf
weniger als sechs Megaelektronenvolt (MeV) begrenzt. Künstliche Kernumwandlun-
gen konnten mit ihrer Hilfe vor allem bei Elementen mit niedriger Ordnungszahl
32 AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 22, Fiche 353 : Meyer an Joliot-Curie vom 25.2.1938.
33 Vgl. Frisch 1954, 82.
34 Vgl. Frisch 1967, 44.
Kerne, Kooperation und Konkurrenz
Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Titel
- Kerne, Kooperation und Konkurrenz
- Untertitel
- Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Autor
- Silke Fengler
- Herausgeber
- Carola Sachse
- Mitchell G. Ash
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-79512-4
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 380
- Schlagwörter
- Institute for Radium Research, nuclear research in Austria, History of science, National Socialism, The Cold War --- Radiuminstitut, Kernforschung in Österreich, Wissenschaftsgeschichte, Nationalsozialismus, Wissenschaftskooperation, Kalter Krieg
- Kategorien
- Naturwissenschaften Chemie
- Naturwissenschaften Physik
Inhaltsverzeichnis
- 1. Kernforschung in Österreich im Spannungsfeld von internationalerKooperation und Konkurrenz 9
- 2. Österreich-Ungarn und die internationale Radioaktivitätsforschung, 1899–1918 30
- 3. Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung, 1919–1932 93
- 3.1 Die Naturwissenschaften in Österreich nach 1918 94
- 3.2 Das regionale Netzwerk festigt sich 97
- 3.3 Das Zentrum (re-)formiert sich 109
- 3.4 Das Zentrum in Aktion : Atomzertrümmerungsforschung als internationales Projekt 140
- 3.5 Die Anfänge der Atomzertrümmerungsforschung als Geschäft der Reichen 176
- 4. Kernforschung in Österreich, 1932–1938 178
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 4.1.1 Neue Standards für die Internationale Radiumstandard- Kommission 179
- 4.1.2 Neue Mitglieder für die Internationale Radiumstandard- Kommission 182
- 4.1.3 Der Ruf nach höchsten Spannungen in der internationalen Kernphysik 185
- 4.1.4 Die Wiener Reaktionen 190
- 4.1.5 Das Polonium-Netzwerk im Dienst der Neutronenforschung 193
- 4.1.6 Höhenstrahlungsforschung zwischen Peripherie und Zentrum 200
- 4.2 Das Zentrum verliert den Anschluss 206
- 4.3 Kernforschung in Österreich als nationales Projekt 226
- 4.4 Wüstentrockenheit auf dem Gebiet der Atomzertrümmerung 234
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 5. Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«, 1938–1945 236
- 6. Kernforschung für die Alliierten – ein Epilog 307
- 7. Schluss 322
- 8. Anhang 334
- Abkürzungsverzeichnis 334
- Verzeichnis der benutzten Archivbestände 336
- Literaturverzeichnis 340
- Personenregister 369