Seite - 282 - in Kerne, Kooperation und Konkurrenz - Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
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Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«,
1938–1945282
Angesichts der Knappheit und geringen Leistungsfähigkeit der vorhandenen Präpa-
rate erstaunt es nicht, dass sich Karlik nach alternativen Strahlungsquellen umsah. Im
Frühjahr 1944 bot sich ihr die Gelegenheit, durch Vermittlung Willibald Jentschkes
am Pariser Zyklotron zu arbeiten.244 Nachdem Hans Pettersson dringend von einer
solchen Reise abgeraten hatte, lehnte sie das Angebot schließlich ab, streckte aber kurz
darauf die Fühler in Richtung des Kopenhagener Zyklotrons aus.245 Die zu diesem
Zeitpunkt bereits anlaufende Verlagerung der Wiener Institute verhinderte, dass Karlik
ihre Pläne in die Tat umsetzen konnte.
Im Zuge der Blitzkriege der Wehrmacht gelangten beträchtliche Mengen radioakti-
ven Materials für den medizinischen und wissenschaftlichen Bedarf in den Einflussbe-
reich des Deutschen Reichs. Davon erreichte aber nur ein kleiner Teil die »Ostmark«,
sei es durch Leihgaben reichsdeutscher Institute oder Rohstoffzuteilungen für die
TCW, die während des Krieges zum wichtigsten Kooperationspartner der Wiener
Gruppe wurden. Im Verlauf des Krieges schränkten Engpässe in der Versorgung mit
natürlichen Strahlungsquellen den Forschungsspielraum der Gruppe immer stärker
ein. Dies zeigte sich beispielsweise in der Arbeit an und mit der fotografischen Me-
thode, die im Österreich der Zwischenkriegszeit an maßgeblicher Stelle erforscht wor-
den war und während des Zweiten Weltkriegs unter widrigen Umständen weiter ent-
wickelt wurde. Dabei konkurrierte die Wiener Kernforschungsgruppe unmittelbar mit
den anderen Mitgliedern des Uranvereins im »Altreich«.
5.3.4 Kernforschung für den Uranverein
Für die junge Disziplin der Höhenstrahlungsforschung, aus der sich nach dem Krieg
die Hochenergiephysik entwickelte, bedeutete der »Anschluss« Österreichs an das
Deutsche Reich tiefgreifende Veränderungen. Die Pionierin der fotografischen Me-
thode, Marietta Blau, konnte die Früchte ihrer erfolgreichen Arbeit aus den 1930er
Jahren nicht mehr ernten.246 Am Tag des Einmarsches deutscher Truppen in Öster-
reich floh sie vor antisemitischer Verfolgung zuerst nach Norwegen, später nach
Mexiko und schließlich in die USA. Während ihres rastlosen Exils fehlten ihr die
Geräte, um die in Großbritannien mithilfe Fritz Paneths exponierten Platten mik-
roskopisch auszuwerten.247 Hertha Wambacher, Blaus Schülerin und eine über-
zeugte Nationalsozialistin, setzte die Arbeit an und mit der fotografischen Methode
244 Vgl. CAC, MTNR 5/13/3, Part I, Bl. 90 : Pettersson an Meitner vom 8.7.1944.
245 Vgl. AMPG, I. Abt., Rep. 34 KWI für Physik, Moskauer Akten, Nr. 5/1 : Mattauch an Heisenberg vom
14.6.1944.
246 Vgl. Sime 2004b ; Soukup 2004, 314–321 ; Rosner/Strohmaier 2003 ; Bischof 2001 ; Galison 1997b.
247 Vgl. AMPG, III. Abt., Rep. 45 NL Paneth, Nr. 17/19 : Blau an Paneth vom 31.1.1939.
Kerne, Kooperation und Konkurrenz
Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Titel
- Kerne, Kooperation und Konkurrenz
- Untertitel
- Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Autor
- Silke Fengler
- Herausgeber
- Carola Sachse
- Mitchell G. Ash
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-79512-4
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 380
- Schlagwörter
- Institute for Radium Research, nuclear research in Austria, History of science, National Socialism, The Cold War --- Radiuminstitut, Kernforschung in Österreich, Wissenschaftsgeschichte, Nationalsozialismus, Wissenschaftskooperation, Kalter Krieg
- Kategorien
- Naturwissenschaften Chemie
- Naturwissenschaften Physik
Inhaltsverzeichnis
- 1. Kernforschung in Österreich im Spannungsfeld von internationalerKooperation und Konkurrenz 9
- 2. Österreich-Ungarn und die internationale Radioaktivitätsforschung, 1899–1918 30
- 3. Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung, 1919–1932 93
- 3.1 Die Naturwissenschaften in Österreich nach 1918 94
- 3.2 Das regionale Netzwerk festigt sich 97
- 3.3 Das Zentrum (re-)formiert sich 109
- 3.4 Das Zentrum in Aktion : Atomzertrümmerungsforschung als internationales Projekt 140
- 3.5 Die Anfänge der Atomzertrümmerungsforschung als Geschäft der Reichen 176
- 4. Kernforschung in Österreich, 1932–1938 178
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 4.1.1 Neue Standards für die Internationale Radiumstandard- Kommission 179
- 4.1.2 Neue Mitglieder für die Internationale Radiumstandard- Kommission 182
- 4.1.3 Der Ruf nach höchsten Spannungen in der internationalen Kernphysik 185
- 4.1.4 Die Wiener Reaktionen 190
- 4.1.5 Das Polonium-Netzwerk im Dienst der Neutronenforschung 193
- 4.1.6 Höhenstrahlungsforschung zwischen Peripherie und Zentrum 200
- 4.2 Das Zentrum verliert den Anschluss 206
- 4.3 Kernforschung in Österreich als nationales Projekt 226
- 4.4 Wüstentrockenheit auf dem Gebiet der Atomzertrümmerung 234
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 5. Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«, 1938–1945 236
- 6. Kernforschung für die Alliierten – ein Epilog 307
- 7. Schluss 322
- 8. Anhang 334
- Abkürzungsverzeichnis 334
- Verzeichnis der benutzten Archivbestände 336
- Literaturverzeichnis 340
- Personenregister 369