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Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«,
1938–1945276
5.3.3 Der problematische Radiumnachschub
Die Wiener Kernforschungsgruppe stand schon vor Beginn des Krieges vor dem Pro-
blem, den Nachschub an radioaktiven Materialien zu sichern, um damit starke Präpa-
rate herzustellen. Mit der Vertreibung Stefan Meyers und Karl Przibrams ging der di-
rekte Draht zur Union Minière in Brüssel verloren, die in der Vergangenheit wieder-
holt mit radioaktiven Präparaten ausgeholfen hatte.210 Während das belgische Unter-
nehmen dem Ehepaar Joliot-Curie weiterhin Präparate für wissenschaftliche Zwecke
zur Verfügung stellte, darunter ein Gramm Radium als Leihgabe kurz vor Kriegsbe-
ginn, musste man sich in Wien nach anderen Kooperationspartnern umsehen.211
Für kurze Zeit schien es, als ob das Problem der Radiumbeschaffung entschärft
worden wäre, als die Tschechoslowakei im Zuge des Münchener Abkommens vom
September 1938 »zerschlagen« wurde. Im Oktober 1938 besetzten Wehrmachtseinhei-
ten das Sudetengebiet, zu dem auch das in Nordböhmen gelegene Jáchymov (ehemals
St. Joachimsthal) zählte. Die dort befindlichen Bergwerke sowie die Radiumfabrik
wurden von den deutschen Behörden beschlagnahmt.212 Noch bevor Adolf Hitler am
31. Oktober 1938 eine Richtlinie über die endgültige Liquidierung der Tschechoslowa-
kei erließ, richteten Vertreter des Instituts für Radiumforschung, darunter auch Stefan
Meyer, eine Anfrage an das Präsidium der Akademie in Wien, in der sie anregten, die
Kontakte zur einstigen k. k. Uranfarbenfabrik in der nordböhmischen Bergbaustadt
wiederaufzunehmen.213 Doch dazu sollte es nicht kommen. Denn schon im Frühjahr
1939 beschloss ein Konsortium der deutschen radiumverarbeitenden Industrie, dem
neben der Auergesellschaft Berlin auch die Chemischen Werke Buchler & Co. in
Braunschweig sowie die Treibacher Chemischen Werke (TCW) angehörten, die Radi-
umfabrik in St. Joachimsthal abzureißen.214
Das Konsortium hatte zuvor die Leistungsfähigkeit der Minen und der Fabrik be-
gutachten lassen. Die Gutachter verwiesen darauf, dass die dort angewandten chemi-
schen Verfahren zur Radiumgewinnung veraltet seien und den Kurbadbetrieb gefähr-
deten. Der stark defizitäre Industriebetrieb wurde auf Geheiß des Reichswirtschaftsmi-
210 Die Union Minière vertrieb allerdings weiterhin kommerziell Radium für wissenschaftliche Zwecke. Vgl.
CAC, MTNR 5/2/1, Bl. 10 : Meitner an Bohr vom 24.3.1939.
211 Vgl. AR-AGR, UM, 259/1072 : Sengier an Leemans vom 5.6.1939 ; ebd., Union Minière du Haut-
Katanga, Dept. Radium, Certificat vom 5.7.1939.
212 Vgl. Karlsch/Zeman 2007, 58–59.
213 Vgl. AÖAW, Math.-nat. Klasse, Institut für Radiumforschung, K 4, I, [1938–1947], Nr. 402/1938 :
Himmelbauer, Mache, Meyer, Schweidler an Präsidium der ÖAW vom 27.10.1938.
214 Vgl. AMPG, I. Abt., Rep. 34 KWI für Physik, Moskauer Akten, Nr. 19208, Bl. 107 : Zimmer, K.G.,
Bericht über die Auergesellschaft vom 5.11.1945. Siehe auch Karlsch/Zeman 2007, 59–61.
Kerne, Kooperation und Konkurrenz
Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Titel
- Kerne, Kooperation und Konkurrenz
- Untertitel
- Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Autor
- Silke Fengler
- Herausgeber
- Carola Sachse
- Mitchell G. Ash
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-79512-4
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 380
- Schlagwörter
- Institute for Radium Research, nuclear research in Austria, History of science, National Socialism, The Cold War --- Radiuminstitut, Kernforschung in Österreich, Wissenschaftsgeschichte, Nationalsozialismus, Wissenschaftskooperation, Kalter Krieg
- Kategorien
- Naturwissenschaften Chemie
- Naturwissenschaften Physik
Inhaltsverzeichnis
- 1. Kernforschung in Österreich im Spannungsfeld von internationalerKooperation und Konkurrenz 9
- 2. Österreich-Ungarn und die internationale Radioaktivitätsforschung, 1899–1918 30
- 3. Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung, 1919–1932 93
- 3.1 Die Naturwissenschaften in Österreich nach 1918 94
- 3.2 Das regionale Netzwerk festigt sich 97
- 3.3 Das Zentrum (re-)formiert sich 109
- 3.4 Das Zentrum in Aktion : Atomzertrümmerungsforschung als internationales Projekt 140
- 3.5 Die Anfänge der Atomzertrümmerungsforschung als Geschäft der Reichen 176
- 4. Kernforschung in Österreich, 1932–1938 178
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 4.1.1 Neue Standards für die Internationale Radiumstandard- Kommission 179
- 4.1.2 Neue Mitglieder für die Internationale Radiumstandard- Kommission 182
- 4.1.3 Der Ruf nach höchsten Spannungen in der internationalen Kernphysik 185
- 4.1.4 Die Wiener Reaktionen 190
- 4.1.5 Das Polonium-Netzwerk im Dienst der Neutronenforschung 193
- 4.1.6 Höhenstrahlungsforschung zwischen Peripherie und Zentrum 200
- 4.2 Das Zentrum verliert den Anschluss 206
- 4.3 Kernforschung in Österreich als nationales Projekt 226
- 4.4 Wüstentrockenheit auf dem Gebiet der Atomzertrümmerung 234
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 5. Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«, 1938–1945 236
- 6. Kernforschung für die Alliierten – ein Epilog 307
- 7. Schluss 322
- 8. Anhang 334
- Abkürzungsverzeichnis 334
- Verzeichnis der benutzten Archivbestände 336
- Literaturverzeichnis 340
- Personenregister 369