Seite - 91 - in Kerne, Kooperation und Konkurrenz - Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
Bild der Seite - 91 -
Text der Seite - 91 -
Der Radiumreichtum : ein Wiener Monopol 91
2.6 Der Radiumreichtum : ein Wiener Monopol
Um die Jahrhundertwende war die Österreichisch-Ungarische Monarchie der einzige
Staat der Welt, der im eigenen Land über genügend Rohstoffe verfügte, um Radium
auf industrieller Basis zu produzieren. Die k. k. Radiumindustrie entwickelte sich im
Vergleich zu Frankreich und dem Deutschen Reich relativ spät, doch die in Wien tätige
Ministerialbürokratie etablierte bald ein weltweites Monopol im Radiumhandel. Den
Mitgliedern des deutschsprachigen Radioaktivisten-Netzwerks, das seinen zentralen
Knotenpunkt in Wien hatte, gelang es, sich eine bedeutende Menge Radium für die
Forschung zu sichern : Im Jahr seiner Gründung 1910 verfügte das Institut für Radi-
umforschung über fast die Hälfte der weltweit für wissenschaftliche Zwecke bereitste-
henden Radiummenge. Der auf die Haupt- und Residenzstadt der Monarchie be-
grenzte Reichtum konnte durch gute Kontakte zur böhmischen Radiumindustrie
weiter gemehrt werden. Ausgehend von seinem Verfügungsmonopol entwickelte sich
Wien innerhalb Österreich-Ungarns zum unbestrittenen Zentrum der frühen Radioak-
tivitätsforschung. Auch international zählte die Donaumetropole vor dem Krieg zu
den vier großen Zentren.
Radioaktive Präparate zirkulierten in Österreich-Ungarn hauptsächlich über das
wissenschaftliche Netzwerk des Exner-Kreises, dessen Mitglieder die neue Forschungs-
richtung an den kleineren deutschsprachigen Universitäten im cisleithanischen Teil der
Monarchie etablierten. Für viele, die keinen Zugang zu diesem Netzwerk hatten, war
das Institut für Radiumforschung in Wien stattdessen eine wichtige Anlaufstelle.
Vor 1914 konkurrierte eine Vielzahl von Gruppen und Einzelpersonen, die ganz
unterschiedliche Forschungsrichtungen und methodische Zugänge verfolgten, um die
Deutungshoheit über das Phänomen der Radioaktivität. Die Radioaktivistengemein-
schaft hatte jedoch eines gemeinsam. Ihre Mitglieder waren auf Unterstützung ange-
wiesen, um an Materialien für ihre Forschung zu gelangen. Sie mussten sich mit der
k. k. Ministerialbürokratie gut stellen, die rein wirtschaftlichen Erwägungen folgend
die wissenschaftlichen Nachfragen aus dem In- und Ausland nachrangig behandelte.
Am Institut für Radiumforschung wusste man die Abhängigkeit der Radioaktivisten-
gemeinschaft geschickt zu nutzen, um sich als einflussreicher Akteur ins Spiel zu brin-
gen. Stefan Meyer wurde als Vermittler zwischen Wissenschaft und Industrie bald
unentbehrlich und machte das Institut so zu einem zentralen Ort der radioaktiven
Metrologie. In Wien wurden Standards hergestellt, die über den lokalen und nationa-
len Rahmen hinaus Gültigkeit beanspruchen konnten.
Wien wurde als international anerkanntes Zentrum der Radiumforschung durch
den Krieg zunächst noch nicht in Frage gestellt. Im deutschsprachigen Raum konnten
Radioaktivisten aus Österreich ihren Einfluss in Nomenklaturfragen sogar noch aus-
Kerne, Kooperation und Konkurrenz
Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Titel
- Kerne, Kooperation und Konkurrenz
- Untertitel
- Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Autor
- Silke Fengler
- Herausgeber
- Carola Sachse
- Mitchell G. Ash
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-79512-4
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 380
- Schlagwörter
- Institute for Radium Research, nuclear research in Austria, History of science, National Socialism, The Cold War --- Radiuminstitut, Kernforschung in Österreich, Wissenschaftsgeschichte, Nationalsozialismus, Wissenschaftskooperation, Kalter Krieg
- Kategorien
- Naturwissenschaften Chemie
- Naturwissenschaften Physik
Inhaltsverzeichnis
- 1. Kernforschung in Österreich im Spannungsfeld von internationalerKooperation und Konkurrenz 9
- 2. Österreich-Ungarn und die internationale Radioaktivitätsforschung, 1899–1918 30
- 3. Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung, 1919–1932 93
- 3.1 Die Naturwissenschaften in Österreich nach 1918 94
- 3.2 Das regionale Netzwerk festigt sich 97
- 3.3 Das Zentrum (re-)formiert sich 109
- 3.4 Das Zentrum in Aktion : Atomzertrümmerungsforschung als internationales Projekt 140
- 3.5 Die Anfänge der Atomzertrümmerungsforschung als Geschäft der Reichen 176
- 4. Kernforschung in Österreich, 1932–1938 178
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 4.1.1 Neue Standards für die Internationale Radiumstandard- Kommission 179
- 4.1.2 Neue Mitglieder für die Internationale Radiumstandard- Kommission 182
- 4.1.3 Der Ruf nach höchsten Spannungen in der internationalen Kernphysik 185
- 4.1.4 Die Wiener Reaktionen 190
- 4.1.5 Das Polonium-Netzwerk im Dienst der Neutronenforschung 193
- 4.1.6 Höhenstrahlungsforschung zwischen Peripherie und Zentrum 200
- 4.2 Das Zentrum verliert den Anschluss 206
- 4.3 Kernforschung in Österreich als nationales Projekt 226
- 4.4 Wüstentrockenheit auf dem Gebiet der Atomzertrümmerung 234
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 5. Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«, 1938–1945 236
- 6. Kernforschung für die Alliierten – ein Epilog 307
- 7. Schluss 322
- 8. Anhang 334
- Abkürzungsverzeichnis 334
- Verzeichnis der benutzten Archivbestände 336
- Literaturverzeichnis 340
- Personenregister 369