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Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«,
1938–1945260
Stellen nahm nach der Machtübernahme durch das nationalsozialistische Regime
kaum zu. Doch von den oben beschriebenen Personalrochaden profitierte vor allem
die jüngere Generation aus Österreich stammender sowie eine Handvoll deutscher
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Diejenigen unter ihnen hatten besonders
gute Aussichten auf eine bezahlte Anstellung oder gar eine Professur, die dem national-
sozialistischen Regime treuergeben und bereit waren, sich den Verhältnissen anzupas-
sen.126 Im Bereich der Radioaktivitäts- und Kernforschung kam es dabei zu einer
bemerkenswerten personellen und, wie noch zu zeigen sein wird, inhaltlichen Konti-
nuität : Denn die Mehrzahl der Akteure war in diesem Forschungsgebiet schon in den
1920er und 1930er Jahren in Wien, Graz und Innsbruck tätig gewesen.
5.2.2 Die Suche nach neuen industriell-wissenschaftlichen Netzwerken
Der Generationswechsel im Zuge des »Anschlusses« mag für Einige neue berufliche
Chancen mit sich gebracht haben. Doch mit den Vertreibungen gingen zugleich Ver-
bindungen zu den internationalen Netzwerken verloren, die die Vertriebenen oft über
Jahrzehnte hinweg mit ihren ausländischen Kolleginnen und Kollegen geknüpft hatten.
Im Rahmen dieser Netzwerke zirkulierten wissenschaftliche Informationen und Präpa-
rate wurden getauscht. Sie umfassten nicht nur die scientific community der Radioak-
tivitäts- und Kernforschung, sondern auch Industrieunternehmen wie die belgische
Union Minière oder die britische Fotofirma Ilford.
In Zeiten materieller Not waren über das internationale Netzwerk unerlässliche
Ressourcen entweder unentgeltlich oder zu sehr günstigen Konditionen nach Öster-
reich geflossen. Seit 1938 schwand die Möglichkeit, fehlende Forschungsmittel wie
Präparate, Instrumente, Geld, wissenschaftliche Literatur und nicht zuletzt das ent-
sprechend qualifizierte Personal im Ausland zu beschaffen. So kam beispielsweise das
grenzüberschreitende Tauschnetzwerk für radioaktive Präparate bald nach Kriegsende
zum Erliegen. Spätestens mit Beginn des Krieges 1939, als Briten und Franzosen ihre
militärisch relevanten Kernforschungsprogramme begannen, wurden Präparate nur
noch innerhalb des eigenen Landes oder in seltenen Fällen zwischen britischen und
französischen Labors ausgetauscht.127
126 Vgl. UAW, PA Hertha Wambacher, PH PA 3664, Kiste 263, Bl. 9–10 : Fragebogen zur Assistentenbe-
stellung, 1938 ; ÖStA, AVA, Ministerium für Kultus und Unterricht 1848–1940, F 644/4/25488 (1938),
Bl. 1–7 : Politische Tauglichkeitserklärung für Dr. Josef Schintlmeister als Hochschullehrer, 1938, und
NARA, RG 330, Box 42, Entry 1 B JIOA Foreign Scientists Case Files, 1945–1958 : Fischer-Colbrie,
Erwin : Ansuchen um Wiederaufnahme in die NSDAP im Zuge der Erfassungsaktion im Lande Öster-
reich vom 9.11.1938.
127 Siehe zum Tausch von Präparaten zwischen britischen Labors CAC, CHAD I 24/1 : Chadwick an Soddy
Kerne, Kooperation und Konkurrenz
Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Titel
- Kerne, Kooperation und Konkurrenz
- Untertitel
- Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Autor
- Silke Fengler
- Herausgeber
- Carola Sachse
- Mitchell G. Ash
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-79512-4
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 380
- Schlagwörter
- Institute for Radium Research, nuclear research in Austria, History of science, National Socialism, The Cold War --- Radiuminstitut, Kernforschung in Österreich, Wissenschaftsgeschichte, Nationalsozialismus, Wissenschaftskooperation, Kalter Krieg
- Kategorien
- Naturwissenschaften Chemie
- Naturwissenschaften Physik
Inhaltsverzeichnis
- 1. Kernforschung in Österreich im Spannungsfeld von internationalerKooperation und Konkurrenz 9
- 2. Österreich-Ungarn und die internationale Radioaktivitätsforschung, 1899–1918 30
- 3. Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung, 1919–1932 93
- 3.1 Die Naturwissenschaften in Österreich nach 1918 94
- 3.2 Das regionale Netzwerk festigt sich 97
- 3.3 Das Zentrum (re-)formiert sich 109
- 3.4 Das Zentrum in Aktion : Atomzertrümmerungsforschung als internationales Projekt 140
- 3.5 Die Anfänge der Atomzertrümmerungsforschung als Geschäft der Reichen 176
- 4. Kernforschung in Österreich, 1932–1938 178
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 4.1.1 Neue Standards für die Internationale Radiumstandard- Kommission 179
- 4.1.2 Neue Mitglieder für die Internationale Radiumstandard- Kommission 182
- 4.1.3 Der Ruf nach höchsten Spannungen in der internationalen Kernphysik 185
- 4.1.4 Die Wiener Reaktionen 190
- 4.1.5 Das Polonium-Netzwerk im Dienst der Neutronenforschung 193
- 4.1.6 Höhenstrahlungsforschung zwischen Peripherie und Zentrum 200
- 4.2 Das Zentrum verliert den Anschluss 206
- 4.3 Kernforschung in Österreich als nationales Projekt 226
- 4.4 Wüstentrockenheit auf dem Gebiet der Atomzertrümmerung 234
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 5. Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«, 1938–1945 236
- 6. Kernforschung für die Alliierten – ein Epilog 307
- 7. Schluss 322
- 8. Anhang 334
- Abkürzungsverzeichnis 334
- Verzeichnis der benutzten Archivbestände 336
- Literaturverzeichnis 340
- Personenregister 369