Seite - 234 - in Kerne, Kooperation und Konkurrenz - Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
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Kernforschung in Österreich,
1932–1938234
Ressourcenverteilung zwischen den Wiener Physikalischen Instituten wurde wenig
später abrupt beendet. Am 10. Mai 1938, zwei Monate nach dem »Anschluss« Öster-
reichs an das Deutsche Reich und der darauf folgenden, politisch motivierten Massen-
entlassung von Universitätsangehörigen, schloss das Bundesministerium für Unterricht
die Akten.
Der »Anschluss« Österreichs kam für viele nicht überraschend. Vor allem die illega-
len Nationalsozialisten witterten Morgenluft, nachdem sich das politische Verhältnis
zum Deutschen Reich ab 1936 entspannt hatte. Manch einer der Wiener Kernforscher
lotete vor diesem Hintergrund seine beruflichen Chancen neu aus. Kirsch nutzte seine
guten Verbindungen zum Präsidenten der PTR Johannes Stark, der ihm in Berlin eine
Stelle verschaffte. Im Dezember 1937 bat Kirsch indes, seine Stelle noch nicht antreten
zu müssen, da
»in unserem Institute eine Neuordnung im Gange [ist], und ich möchte deshalb nicht früher
als unbedingt nötig den arischen Dampfdruck erniedrigen. Zum dritten habe ich aus be-
freundeten Fakultätskreisen erfahren, dass man mich zum wirklichen Extraordinarius vor-
schlagen will. Es ist ja nicht damit zu rechnen, dass das Ministerium dem stattgibt, aber den
Vorschlag des Kollegiums, […], möchte ich doch gern abwarten.«248
4.4 Wüstentrockenheit auf dem Gebiet der Atomzertrümmerung
Seit den frühen 1930er Jahren entwickelte sich die Kernforschung in Europa, den USA
und Japan unter zunehmendem Einsatz großtechnischer Geräte dynamisch. Während-
dessen wurde das Institut für Radiumforschung seinem Ruf als wichtiges Distributi-
onszentrum für radioaktive Präparate weiterhin gerecht. Radioaktivisten aus Öster-
reich gaben in Fragen der Metrologie und Nomenklatur in internationalen Gremien
mehr denn je den Ton an. Ausgestattet mit einem großen Bestand an natürlichen
Strahlungsquellen, schalteten sie sich in grenzüberschreitende Forschungsdiskussionen
ein und pflegten innovative Richtungen wie die Neutronen- oder Höhenstrahlungsfor-
schung vermeintlich unabhängig vom allgemeinen Trend zur Großforschung.
Das positive Bild kann nicht darüber hinweg täuschen, dass die Kernforschung,
mehr als die Radioaktivitäts- und Höhenstrahlungsforschung, in Österreich zu diesem
Zeitpunkt bereits in einer tiefgreifenden Krise steckte. Wie der Vergleich mit anderen
europäischen Laboratorien zeigte, waren die großtechnischen Geräte, mit deren Hilfe
die Kernforschung auf eine neue Stufe hätte gehoben werden können, ohne Unterstüt-
248 BAB, R 1519/70 : Kirsch an Stark vom 23.9.1937.
Kerne, Kooperation und Konkurrenz
Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Titel
- Kerne, Kooperation und Konkurrenz
- Untertitel
- Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Autor
- Silke Fengler
- Herausgeber
- Carola Sachse
- Mitchell G. Ash
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-79512-4
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 380
- Schlagwörter
- Institute for Radium Research, nuclear research in Austria, History of science, National Socialism, The Cold War --- Radiuminstitut, Kernforschung in Österreich, Wissenschaftsgeschichte, Nationalsozialismus, Wissenschaftskooperation, Kalter Krieg
- Kategorien
- Naturwissenschaften Chemie
- Naturwissenschaften Physik
Inhaltsverzeichnis
- 1. Kernforschung in Österreich im Spannungsfeld von internationalerKooperation und Konkurrenz 9
- 2. Österreich-Ungarn und die internationale Radioaktivitätsforschung, 1899–1918 30
- 3. Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung, 1919–1932 93
- 3.1 Die Naturwissenschaften in Österreich nach 1918 94
- 3.2 Das regionale Netzwerk festigt sich 97
- 3.3 Das Zentrum (re-)formiert sich 109
- 3.4 Das Zentrum in Aktion : Atomzertrümmerungsforschung als internationales Projekt 140
- 3.5 Die Anfänge der Atomzertrümmerungsforschung als Geschäft der Reichen 176
- 4. Kernforschung in Österreich, 1932–1938 178
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 4.1.1 Neue Standards für die Internationale Radiumstandard- Kommission 179
- 4.1.2 Neue Mitglieder für die Internationale Radiumstandard- Kommission 182
- 4.1.3 Der Ruf nach höchsten Spannungen in der internationalen Kernphysik 185
- 4.1.4 Die Wiener Reaktionen 190
- 4.1.5 Das Polonium-Netzwerk im Dienst der Neutronenforschung 193
- 4.1.6 Höhenstrahlungsforschung zwischen Peripherie und Zentrum 200
- 4.2 Das Zentrum verliert den Anschluss 206
- 4.3 Kernforschung in Österreich als nationales Projekt 226
- 4.4 Wüstentrockenheit auf dem Gebiet der Atomzertrümmerung 234
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 5. Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«, 1938–1945 236
- 6. Kernforschung für die Alliierten – ein Epilog 307
- 7. Schluss 322
- 8. Anhang 334
- Abkürzungsverzeichnis 334
- Verzeichnis der benutzten Archivbestände 336
- Literaturverzeichnis 340
- Personenregister 369