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Das Zentrum (re-)formiert sich 117
Ressourcen aus dem Ausland zu erhalten, von denen vor allem die Hauptstadt Wien
profitierte.
3.3.2 Wiederaufnahme des internationalen Präparateverleihs
Die finanzielle Situation der Physikalischen Institute in Österreich war in der frühen
Nachkriegszeit zweifellos düster. Dies blieb nicht ohne Folgen für die Tauschprozesse,
die sich rund um radioaktive Präparate abspielten, und die für den Wissenschaftsverkehr
auf dem Feld der Radioaktivitätsforschung vor dem Krieg von zentraler Bedeutung ge-
wesen waren. Getauscht wurden die radioaktiven Muttersubstanzen Uran, Thorium und
Radium ebenso wie deren Zerfallsprodukte. Doch angesichts der Not, die im Nach-
kriegsösterreich allgegenwärtig war, änderten sich die Regeln, die bei dem Tausch galten.
Trotz der akuten wirtschaftlichen Krise, die das Land beherrschte, darf eines nicht
vergessen werden : Das Institut für Radiumforschung verfügte über einen Bestand an
radioaktiven Materialien, von dem andere Laboratorien nur träumen konnten.116 Ver-
treter der US-amerikanischen Stiftung IEB, die das Institut 1925 aufsuchten und seine
Förderwürdigkeit evaluierten, schätzten deren Wert Mitte der 1920er Jahre auf
200.000 US-Dollar in Goldstandardrelation. Sie vermuteten zu Recht, dass in Wien
für die wissenschaftliche Arbeit mehr als genug radioaktive Präparate vorhanden wa-
ren.117 Lediglich das Laboratoire Curie in Paris verfügte angeblich über größere Radi-
umvorräte. Meyer wollte den seit der Vorkriegszeit schwelenden Konflikt um den
Verbleib der umfangreichen St. Joachimsthaler Pechblendelieferungen an Frankreich
jedoch nicht aufwärmen. Seinem US-amerikanischen Kollegen Lind erklärte er :
»Wohin alles dieses Radium geraten ist, war uns hier in Wien immer ein Rätsel, denn wir
hörten nur immer, dass die Curies es nicht haben. […] Soweit ich aber persönlich Frau
Curie kenne, habe ich den allerbesten Eindruck von ihr und glaube nicht, dass irgendwelche
geschäftlichen Spekulationen bei ihr eine Rolle spielen können.«118
Dank eigener Radiumvorräte war das Laboratoire Curie weniger auf den Austausch mit
Wien angewiesen als beispielsweise die britischen Radioaktivisten um Rutherford.119
116 Die in Atzgersdorf deponierten Rückrückstände, die aus der Verarbeitung der Uranlaugrückstände auf
Radium in St. Joachimsthal und Atzgersdorf stammten und zur Gewinnung von Radioblei, Polonium,
Ionium und Actinium dienten, standen dem Institut erst nach dem Krieg zur Verfügung. Vgl. Meyer
1950, 10. Siehe zur desolaten Situation an spanischen Laboratorien Glick 2005, 128.
117 Vgl. RAC, IEB, Series 1.2, Box 25, Folder 360 : Augustus Trowbridge, Memorandum of conversation
with Professor Meyer and Karl Przibram vom 26.3.1925.
118 AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 16, Fiche 254 : Meyer an Lind vom 19.4.1921.
119 Vgl. Ceranski 2008a.
Kerne, Kooperation und Konkurrenz
Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Titel
- Kerne, Kooperation und Konkurrenz
- Untertitel
- Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Autor
- Silke Fengler
- Herausgeber
- Carola Sachse
- Mitchell G. Ash
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-79512-4
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 380
- Schlagwörter
- Institute for Radium Research, nuclear research in Austria, History of science, National Socialism, The Cold War --- Radiuminstitut, Kernforschung in Österreich, Wissenschaftsgeschichte, Nationalsozialismus, Wissenschaftskooperation, Kalter Krieg
- Kategorien
- Naturwissenschaften Chemie
- Naturwissenschaften Physik
Inhaltsverzeichnis
- 1. Kernforschung in Österreich im Spannungsfeld von internationalerKooperation und Konkurrenz 9
- 2. Österreich-Ungarn und die internationale Radioaktivitätsforschung, 1899–1918 30
- 3. Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung, 1919–1932 93
- 3.1 Die Naturwissenschaften in Österreich nach 1918 94
- 3.2 Das regionale Netzwerk festigt sich 97
- 3.3 Das Zentrum (re-)formiert sich 109
- 3.4 Das Zentrum in Aktion : Atomzertrümmerungsforschung als internationales Projekt 140
- 3.5 Die Anfänge der Atomzertrümmerungsforschung als Geschäft der Reichen 176
- 4. Kernforschung in Österreich, 1932–1938 178
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 4.1.1 Neue Standards für die Internationale Radiumstandard- Kommission 179
- 4.1.2 Neue Mitglieder für die Internationale Radiumstandard- Kommission 182
- 4.1.3 Der Ruf nach höchsten Spannungen in der internationalen Kernphysik 185
- 4.1.4 Die Wiener Reaktionen 190
- 4.1.5 Das Polonium-Netzwerk im Dienst der Neutronenforschung 193
- 4.1.6 Höhenstrahlungsforschung zwischen Peripherie und Zentrum 200
- 4.2 Das Zentrum verliert den Anschluss 206
- 4.3 Kernforschung in Österreich als nationales Projekt 226
- 4.4 Wüstentrockenheit auf dem Gebiet der Atomzertrümmerung 234
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 5. Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«, 1938–1945 236
- 6. Kernforschung für die Alliierten – ein Epilog 307
- 7. Schluss 322
- 8. Anhang 334
- Abkürzungsverzeichnis 334
- Verzeichnis der benutzten Archivbestände 336
- Literaturverzeichnis 340
- Personenregister 369