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Den Krieg für die Wissenschaft nutzbar machen 305
Die Wiener Kernforschungsgruppe zerstob in alle Winde : Gustav Ortner und Her-
tha Wambacher, die im schwer umkämpften Wien geblieben waren, wurden im April
1945 vom sowjetischen Geheimdienst inhaftiert und nach Moskau gebracht. Die Mit-
arbeiter des Instituts für Theoretische Physik folgten Georg Stetter, der mit dem Vier-
jahresplaninstitut nach Zell am See ausgewichen war, als sich Anfang April der Ein-
marsch sowjetischer Truppen in Wien abzeichnete.357 Stetter versuchte in Zell den
Institutsbetrieb aufrecht zu erhalten. Neben einem Großteil des Personals aus dem II.
Physikalischen Institut, dem Institut für Radiumforschung und dem Vierjahresplanin-
stitut für Neutronenforschung fanden sich einzelne Mitarbeiter des I. Physikalischen
Instituts, des Instituts für Technische Chemie Anorganischer Stoffe, der Firma Telefun-
ken, sowie der Vorstand des Instituts für Theoretische Physik Erwin Fues in Zell
ein.358 Hinzu kam die Belegschaft der Physikalischen Institute der TH München, auf
deren Ressourcen, unter anderem die Bibliothek, die gesamte Gruppe zurückgreifen
konnte.359 In Zell am See erwarteten sie die Ankunft der US-amerikanischen Truppen.
5.5 Den Krieg für die Wissenschaft nutzbar machen
Die politisch motivierten Vertreibungen nach dem »Anschluss« sorgten in den Natur-
wissenschaften, vor allem in der Physik, für einen Generationswechsel. Während die
meisten Emigranten und Emigrantinnen im Exil nur mit Mühe beruflich Fuß fassten,
eröffneten sich für die jüngere Generation neue berufliche Chancen an den Universi-
täten der »Ostmark«. Die politischen Umbrüche um das Jahr 1938 sorgten allerdings
auch dafür, dass wertvolle, über Jahrzehnte aufgebaute internationale Kontakte verlo-
rengingen, und zwar gleichermaßen zur Industrie, zu internationalen Geldgebern und
zur westeuropäischen und US-amerikanischen scientific community der Kernfor-
schung. Dadurch wurden der Zugang zu radioaktiven Präparaten sowie die Zirkula-
tion neuen Wissens erschwert, und es wurde immer schwieriger, mit den wissenschaft-
lichen Entwicklungen Schritt zu halten.
Wie das Beispiel der Internationalen Radiumstandard-Kommission zeigt, gelang es
nicht, die internationale Bedeutung des Instituts für Radiumforschung in Standardi-
357 Vgl. ADM, NL Sommerfeld , NL 89/020 : Fues an Sommerfeld vom 1.8.1945.
358 Vgl. ADM, Deutsche Berichte zum Atom-Programm 1938–1945, FA 002/Vorl. Nr. 0705 : Bericht über
das II. Physikalische Institut der Wiener Universität derzeit in Thumersbach bei Zell am See Salzburg (3.
Ausfertigung) vom 1.7.1945.
359 Vgl. ADM, Deutsche Berichte zum Atom-Programm 1938–1945, FA 002/Vorl. Nr. 0720 : Erwin Fues,
Beantwortung der Fragen an Forschungsinstitute vom 23.6.1945, und ADM, NL Sommerfeld, NL
89/013 : Tomaschek an Sommerfeld vom 25.7.1945.
Kerne, Kooperation und Konkurrenz
Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Titel
- Kerne, Kooperation und Konkurrenz
- Untertitel
- Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Autor
- Silke Fengler
- Herausgeber
- Carola Sachse
- Mitchell G. Ash
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-79512-4
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 380
- Schlagwörter
- Institute for Radium Research, nuclear research in Austria, History of science, National Socialism, The Cold War --- Radiuminstitut, Kernforschung in Österreich, Wissenschaftsgeschichte, Nationalsozialismus, Wissenschaftskooperation, Kalter Krieg
- Kategorien
- Naturwissenschaften Chemie
- Naturwissenschaften Physik
Inhaltsverzeichnis
- 1. Kernforschung in Österreich im Spannungsfeld von internationalerKooperation und Konkurrenz 9
- 2. Österreich-Ungarn und die internationale Radioaktivitätsforschung, 1899–1918 30
- 3. Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung, 1919–1932 93
- 3.1 Die Naturwissenschaften in Österreich nach 1918 94
- 3.2 Das regionale Netzwerk festigt sich 97
- 3.3 Das Zentrum (re-)formiert sich 109
- 3.4 Das Zentrum in Aktion : Atomzertrümmerungsforschung als internationales Projekt 140
- 3.5 Die Anfänge der Atomzertrümmerungsforschung als Geschäft der Reichen 176
- 4. Kernforschung in Österreich, 1932–1938 178
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 4.1.1 Neue Standards für die Internationale Radiumstandard- Kommission 179
- 4.1.2 Neue Mitglieder für die Internationale Radiumstandard- Kommission 182
- 4.1.3 Der Ruf nach höchsten Spannungen in der internationalen Kernphysik 185
- 4.1.4 Die Wiener Reaktionen 190
- 4.1.5 Das Polonium-Netzwerk im Dienst der Neutronenforschung 193
- 4.1.6 Höhenstrahlungsforschung zwischen Peripherie und Zentrum 200
- 4.2 Das Zentrum verliert den Anschluss 206
- 4.3 Kernforschung in Österreich als nationales Projekt 226
- 4.4 Wüstentrockenheit auf dem Gebiet der Atomzertrümmerung 234
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 5. Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«, 1938–1945 236
- 6. Kernforschung für die Alliierten – ein Epilog 307
- 7. Schluss 322
- 8. Anhang 334
- Abkürzungsverzeichnis 334
- Verzeichnis der benutzten Archivbestände 336
- Literaturverzeichnis 340
- Personenregister 369