Seite - 69 - in Kerne, Kooperation und Konkurrenz - Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
Bild der Seite - 69 -
Text der Seite - 69 -
Das Zentrum etabliert sich 69
2.4.2 Die Internationale Radiumstandard-Kommission
Nicht nur in Österreich-Ungarn, auch in anderen Ländern gab die Definition allgemein
akzeptierter Messstandards und verbindlicher Maßeinheiten den Anlass dafür, dass ver-
schiedene Laborpraktiken, Experimentalsysteme und damit einhergehende wissenschaft-
liche Auffassungen konfliktreich aufeinanderprallten.189 Neben den Messmethoden war
auch umstritten, welches der bekannten radioaktiven Elemente dafür verwendet werden
sollte, um international gültige Standards herzustellen. Französische, britische und öster-
reichische Radioaktivistinnen und Radioaktivisten warben nachdrücklich für das Ra-
dium, von dem sie beträchtliche Mengen besaßen. Die französisch-britisch-österreichi-
sche Radiumlobby war, wie noch zu zeigen sein wird, in sich zwar wenig geschlossen,
doch in einem Punkt war sie sich einig. Sie wollte ihren Radiumreichtum gezielt einset-
zen, um sich im Kampf um international anerkannte Standards als maßgeblicher Akteur
zu behaupten. Die Radiumlobby nahm für sich in Anspruch der wissenschaftlichen
Avantgarde anzugehören und sie leitete daraus das Recht ab, verbindliche metrologische
Regeln zu setzen. Diesen Anspruch galt es gegen Widerstände aus den eigenen Reihen
sowie gegen Industrievertreter und Ärzte in aller Welt zu verteidigen.
Vom damaligen Stand der Wissenschaft betrachtet, sprach einiges für das Radium.
Es galt zum Zeitpunkt, als die ersten international verbindlichen Standards hergestellt
wurden, als dasjenige Element, dessen chemische Eigenschaften am besten bestimmt
worden waren. Als einziges der bekannten radioaktiven Elemente lag es in hochreiner
Form vor.190 Allerdings gab es durchaus Gruppierungen, die mit Radium als Referenz
nicht einverstanden waren. Geologen, Bergbauspezialisten und Balneologen, die häufig
die sogenannte Emanationsmethode verwendeten, um die natürliche Radioaktivität in
Gesteinen und Wässern zu messen, sahen das Radium für ihre Zwecke als gänzlich
ungeeignet an.191 Ihre Versuche, einen alternativen Standard beziehungsweise alterna-
tive Maßeinheiten durchzusetzen, waren aber wenig erfolgreich.
Rapide steigende Radiumpreise ließen verlässliche Mess- und Wägtechniken sowie
verbindliche Maßeinheiten unterdessen zu einem dringenden Erfordernis für die Ra-
189 Vgl. Boudia 1997, 254.
190 Dem war ein längerer Streit vorausgegangen, ob Radium überhaupt als eigenständiges Element anzuse-
hen sei. Vgl. Roqué 2001b, 122–123.
191 Die erwähnten Gruppen verwendeten häufig eine Methode, die auf der Messung des beim radioakti-
ven Zerfall entweichenden gasförmigen Radons, der sogenannten Emanation beruhte. Die Befürworter
der Methode betonten, dass die Radiummenge eines Präparats anhand der Messung der ausgesandten
γ-Strahlung nicht zweifelsfrei bestimmt werden könne. Denn die Mineralien, deren Radiumgehalt zu
bestimmen sei, enthielten oft andere radioaktive Elemente, die ebenfalls γ-Strahlung aussandten. Die
Strahlen seien daher nicht dem Radium spezifisch zuzuordnen. Vgl. Boudia 1997, 254–255.
Kerne, Kooperation und Konkurrenz
Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Titel
- Kerne, Kooperation und Konkurrenz
- Untertitel
- Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Autor
- Silke Fengler
- Herausgeber
- Carola Sachse
- Mitchell G. Ash
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-79512-4
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 380
- Schlagwörter
- Institute for Radium Research, nuclear research in Austria, History of science, National Socialism, The Cold War --- Radiuminstitut, Kernforschung in Österreich, Wissenschaftsgeschichte, Nationalsozialismus, Wissenschaftskooperation, Kalter Krieg
- Kategorien
- Naturwissenschaften Chemie
- Naturwissenschaften Physik
Inhaltsverzeichnis
- 1. Kernforschung in Österreich im Spannungsfeld von internationalerKooperation und Konkurrenz 9
- 2. Österreich-Ungarn und die internationale Radioaktivitätsforschung, 1899–1918 30
- 3. Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung, 1919–1932 93
- 3.1 Die Naturwissenschaften in Österreich nach 1918 94
- 3.2 Das regionale Netzwerk festigt sich 97
- 3.3 Das Zentrum (re-)formiert sich 109
- 3.4 Das Zentrum in Aktion : Atomzertrümmerungsforschung als internationales Projekt 140
- 3.5 Die Anfänge der Atomzertrümmerungsforschung als Geschäft der Reichen 176
- 4. Kernforschung in Österreich, 1932–1938 178
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 4.1.1 Neue Standards für die Internationale Radiumstandard- Kommission 179
- 4.1.2 Neue Mitglieder für die Internationale Radiumstandard- Kommission 182
- 4.1.3 Der Ruf nach höchsten Spannungen in der internationalen Kernphysik 185
- 4.1.4 Die Wiener Reaktionen 190
- 4.1.5 Das Polonium-Netzwerk im Dienst der Neutronenforschung 193
- 4.1.6 Höhenstrahlungsforschung zwischen Peripherie und Zentrum 200
- 4.2 Das Zentrum verliert den Anschluss 206
- 4.3 Kernforschung in Österreich als nationales Projekt 226
- 4.4 Wüstentrockenheit auf dem Gebiet der Atomzertrümmerung 234
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 5. Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«, 1938–1945 236
- 6. Kernforschung für die Alliierten – ein Epilog 307
- 7. Schluss 322
- 8. Anhang 334
- Abkürzungsverzeichnis 334
- Verzeichnis der benutzten Archivbestände 336
- Literaturverzeichnis 340
- Personenregister 369