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Kernforschung in Österreich,
1932–1938200
4.1.6 Höhenstrahlungsforschung zwischen Peripherie und Zentrum
Die marginalisierte Position Marietta Blaus beziehungsweise der von ihr wissenschaft-
lich betreuten Hertha Wambacher innerhalb der Wiener Kernforschungsgruppe stand
in einem gewissen Widerspruch zur Beachtung, welche die Arbeit der beiden Physike-
rinnen auf internationaler Ebene fand. Nicht nur in Cambridge interessierte man sich
für Blaus Arbeiten.105 Auch in den USA, Großbritannien und im Deutschen Reich
wandte man sich Blaus fotografischer Methode zu, Neutronen durch Sekundärproto-
nen zu registrieren, die in der fotografischen Emulsion ausgelöst wurden.106
Die Methode galt unter Physikern allerdings weiterhin als qualitative, zum Stu-
dium der Neutronenenergie nicht geeignete Arbeitsweise.107 Auch die oft mühsame
mikroskopische Auswertung der Platten war unbeliebt.108 Dies mag dazu beigetragen
haben, dass die fotografische im Vergleich zu anderen kernphysikalischen Mess- und
Aufzeichnungsmethoden am Institut für Radiumforschung keine Priorität hatte.
Blau und Wambacher waren zwar nicht die einzigen, die in Wien mit der fotografi-
schen Methode arbeiteten, denn auch Stetter, Kirsch und Ortner waren in die Ver-
suche involviert.109 Festzuhalten bleibt aber, dass Blau für ihre Versuche mit schwa-
chen Präparaten Vorlieb nehmen musste.110 Außerdem wurden Blaus Beziehungen
zur Forschungsabteilung der IG-Filmfabrik in Wolfen, in der ebenfalls an der Wei-
terentwicklung fotografischer Emulsionen für kernphysikalische Zwecke gearbeitet
wurde, in keiner Weise unterstützt. Das Industrielabor, in dem Blau 1932 vorüber-
gehend selbst tätig gewesen war, wurde von der Wiener Kernforschungsgruppe eher
als lästige Konkurrenz denn als willkommener Kooperationspartner wahrgenommen,
mit dem Forschungsergebnisse, Präparate und sonstige Ressourcen zum gegenseiti-
gen Vorteil ausgetauscht werden konnten. Meyer war daher nicht bereit, dem Wolfe-
ner Labor ein Poloniumpräparat zu leihen, damit Blaus Befunde über den Rückgang
des latenten Bildes bei α-Strahleneinwirkung überprüft werden konnten. An Blau,
die nach ihrem Forschungsaufenthalt in Wolfen nach Göttingen weitergereist war,
schrieb er :
105 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 17, Fiche 279 : Pettersson an Meyer vom 16.5.1927.
106 Vgl. AMPG, I. Abt., Rep. 34 KWI für Physik, Moskauer Akten, Nr. 2 : Schopper an Eggert vom
18.1.1936.
107 H.J. Taylor sprach der Methode die Eignung ab, die Energieverteilung von Neutronen und Protonen zu
ermitteln, die bei Atomzertrümmerungsprozessen freigesetzt wurden. Vgl. Galison 1997a, 152.
108 Vgl. Joos/Schopper 1958, 303 ; Powell /Fowler/Perkins 1959, 17, 23.
109 Vgl. Galison 1997b, 44.
110 Vgl. Powell/Fowler/Perkins 1959, 24–25.
Kerne, Kooperation und Konkurrenz
Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Titel
- Kerne, Kooperation und Konkurrenz
- Untertitel
- Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Autor
- Silke Fengler
- Herausgeber
- Carola Sachse
- Mitchell G. Ash
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-79512-4
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 380
- Schlagwörter
- Institute for Radium Research, nuclear research in Austria, History of science, National Socialism, The Cold War --- Radiuminstitut, Kernforschung in Österreich, Wissenschaftsgeschichte, Nationalsozialismus, Wissenschaftskooperation, Kalter Krieg
- Kategorien
- Naturwissenschaften Chemie
- Naturwissenschaften Physik
Inhaltsverzeichnis
- 1. Kernforschung in Österreich im Spannungsfeld von internationalerKooperation und Konkurrenz 9
- 2. Österreich-Ungarn und die internationale Radioaktivitätsforschung, 1899–1918 30
- 3. Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung, 1919–1932 93
- 3.1 Die Naturwissenschaften in Österreich nach 1918 94
- 3.2 Das regionale Netzwerk festigt sich 97
- 3.3 Das Zentrum (re-)formiert sich 109
- 3.4 Das Zentrum in Aktion : Atomzertrümmerungsforschung als internationales Projekt 140
- 3.5 Die Anfänge der Atomzertrümmerungsforschung als Geschäft der Reichen 176
- 4. Kernforschung in Österreich, 1932–1938 178
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 4.1.1 Neue Standards für die Internationale Radiumstandard- Kommission 179
- 4.1.2 Neue Mitglieder für die Internationale Radiumstandard- Kommission 182
- 4.1.3 Der Ruf nach höchsten Spannungen in der internationalen Kernphysik 185
- 4.1.4 Die Wiener Reaktionen 190
- 4.1.5 Das Polonium-Netzwerk im Dienst der Neutronenforschung 193
- 4.1.6 Höhenstrahlungsforschung zwischen Peripherie und Zentrum 200
- 4.2 Das Zentrum verliert den Anschluss 206
- 4.3 Kernforschung in Österreich als nationales Projekt 226
- 4.4 Wüstentrockenheit auf dem Gebiet der Atomzertrümmerung 234
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 5. Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«, 1938–1945 236
- 6. Kernforschung für die Alliierten – ein Epilog 307
- 7. Schluss 322
- 8. Anhang 334
- Abkürzungsverzeichnis 334
- Verzeichnis der benutzten Archivbestände 336
- Literaturverzeichnis 340
- Personenregister 369