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Das Zentrum formiert sich 57
Ob es Meyers oder Ulrichs Fürsprache zu verdanken war, dass das k. k. Ministerium
für öffentliche Arbeiten Marie Curies Wunsch doch noch erfüllte, ist aus den Quellen
nicht mehr rekonstruierbar. Im Austausch für fünf Tonnen Uranerzlaugrückstände
erklärte sich Curie jedenfalls bereit, dem Ministerium und damit auch der k. k. Radi-
umindustrie ihre neuen Rezepturen zur Gewinnung von Polonium offen zu legen.135
2.3.3 Verleih radioaktiver Substanzen durch die Akademie
Es ist bezeichnend, dass Marie Curie ihre Wiener Kontakte nutzte, um an den für die
Radiumproduktion notwendigen Rohstoff zu gelangen. Dank ihrer engen Verbindun-
gen zur französischen Radiumindustrie verfügte ihr Labor selbst über reiche Radium-
vorräte und war deshalb nicht darauf angewiesen, andernorts Präparate zu leihen oder
gar käuflich zu erwerben.136 Nicht alle verfügten über so gute industrielle Kontakte wie
die Laboratorien in Paris, Berlin oder Wien. In einem Brief an seinen Kollegen Ruther-
ford machte sich Bertram Boltwood schon 1908 Sorgen, dass diejenigen Radioaktivis-
ten mittelfristig ins Hintertreffen gelangen könnten, denen nicht ausreichend Radium
zur Verfügung stand :
»As a matter of fact I am getting a little down in the mouth on the radioactivity matter for I
am afraid that the time is rapidly passing when one can hope to accomplish very much with
homeopathic doses. I see that someone has given a lot of money for a Radioactive Institute
at Vienna and I am afraid that the wholesale business will drive the small dealer like me to
the wall.«137
Diejenigen, die im Spiel der großen Zentren mithalten wollten und über keine eigenen
Vorräte verfügten, mussten weiter darauf hoffen, Präparate als Leihgabe zu bekom-
men.138 Die Wiener Akademie beziehungsweise Exners Institut an der Universität
Wien waren spätestens seit 1907 bevorzugte Adressaten für Ausleihwünsche aus dem
In- und Ausland. Die Akademie ging mit ihrem in Atzgersdorf hergestellten Radium-
vorrat anfangs noch recht großzügig um. Ein Verkauf von Radium stand zwar nicht zur
Debatte, doch unter bestimmten Umständen war man bereit, das kostbare Material zu
verleihen. Beate Ceranski charakterisierte die dahinter stehende Logik treffend als
135 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 22, Fiche 348 : Curie an Ministerium für öffentliche Arbeiten
vom 24.1.1911 und vom 26.2.1911.
136 Vgl. Boudia 2001, 123.
137 CUL, RC, Add 7653, B 204 : Boltwood an Rutherford vom 11.10.1908.
138 Vgl. Ceranski 2008a, 416. Siehe zur Macht derer, die im frühen radioaktiven Tauschnetzwerk über Prä-
parate für den Verleih verfügten Hessenbruch 1994, 54.
Kerne, Kooperation und Konkurrenz
Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Titel
- Kerne, Kooperation und Konkurrenz
- Untertitel
- Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Autor
- Silke Fengler
- Herausgeber
- Carola Sachse
- Mitchell G. Ash
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-79512-4
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 380
- Schlagwörter
- Institute for Radium Research, nuclear research in Austria, History of science, National Socialism, The Cold War --- Radiuminstitut, Kernforschung in Österreich, Wissenschaftsgeschichte, Nationalsozialismus, Wissenschaftskooperation, Kalter Krieg
- Kategorien
- Naturwissenschaften Chemie
- Naturwissenschaften Physik
Inhaltsverzeichnis
- 1. Kernforschung in Österreich im Spannungsfeld von internationalerKooperation und Konkurrenz 9
- 2. Österreich-Ungarn und die internationale Radioaktivitätsforschung, 1899–1918 30
- 3. Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung, 1919–1932 93
- 3.1 Die Naturwissenschaften in Österreich nach 1918 94
- 3.2 Das regionale Netzwerk festigt sich 97
- 3.3 Das Zentrum (re-)formiert sich 109
- 3.4 Das Zentrum in Aktion : Atomzertrümmerungsforschung als internationales Projekt 140
- 3.5 Die Anfänge der Atomzertrümmerungsforschung als Geschäft der Reichen 176
- 4. Kernforschung in Österreich, 1932–1938 178
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 4.1.1 Neue Standards für die Internationale Radiumstandard- Kommission 179
- 4.1.2 Neue Mitglieder für die Internationale Radiumstandard- Kommission 182
- 4.1.3 Der Ruf nach höchsten Spannungen in der internationalen Kernphysik 185
- 4.1.4 Die Wiener Reaktionen 190
- 4.1.5 Das Polonium-Netzwerk im Dienst der Neutronenforschung 193
- 4.1.6 Höhenstrahlungsforschung zwischen Peripherie und Zentrum 200
- 4.2 Das Zentrum verliert den Anschluss 206
- 4.3 Kernforschung in Österreich als nationales Projekt 226
- 4.4 Wüstentrockenheit auf dem Gebiet der Atomzertrümmerung 234
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 5. Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«, 1938–1945 236
- 6. Kernforschung für die Alliierten – ein Epilog 307
- 7. Schluss 322
- 8. Anhang 334
- Abkürzungsverzeichnis 334
- Verzeichnis der benutzten Archivbestände 336
- Literaturverzeichnis 340
- Personenregister 369