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Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«,
1938–1945300
Im Dossier, welches der US-Geheimdienst über Lintner im darauf folgenden Jahr an-
legte, wurde auf Experimente verwiesen, niedrigenergetische Kernprozesse mittels
hochkonzentrierter elektrischer Funken in Gang zu setzen.335 Lintners Aussage, dass
Stetters Aufzeichnungen samt und sonders vom sowjetischen Geheimdienst beschlag-
nahmt wurden, ist zu bezweifeln. Schließlich blieb angesichts der frühzeitigen Evaku-
ierung der Physikalischen Institute genügend Zeit, um Materialien entweder aus Wien
mitzunehmen oder zu vernichten. Tatsächlich fand sich in den Beständen des sowjeti-
schen Geheimdienstes, der in Wien begann, dem deutschen Atomprojekt auf die Spur
zu kommen und im Windschatten der Roten Armee noch vor den Amerikanern dort
eintraf, nur ein Dokument, das Stetters Lithium-Versuche erwähnt.336 Wie noch zu
zeigen sein wird, reichten diese Informationen nicht aus, um die alliierten Geheim-
dienste dazu zu bewegen, dem weiter nachzugehen oder die betreffenden Personen gar
für eigene Forschungsprojekte anzuwerben.
Unter den Wiener Physikern waren die Meinungen, welche potenzielle Bedeutung
die Kernfusion künftig haben würde, geteilt. Hans Thirring, der die Entwicklung noch
stärkerer Vernichtungswaffen als der Atombombe im Sommer 1946 mit seinem Kolle-
gen Willibald Jentschke diskutierte, berichtete, dass »Jentschke […] als reiner Physiker
nicht so sehr von der Wichtigkeit der Kernverschmelzung überzeugt« sei. Thirring
habe als Physiker und Politiker hingegen gewusst, »dass das Gelingen dieser Experi-
mente (zur Herstellung der Wasserstoffbombe) leider von welthistorischer Bedeutung
sein wird.«337
5.3.5 Geophysik im Kontext des SS-Ahnenerbes
Während die Gruppe um Georg Stetter und Gustav Ortner mit finanzieller Unterstüt-
zung des HWA und verschiedener ziviler reichsdeutscher Forschungsförderungsinsti-
tutionen aktiv zum Uranverein beitrug, ging Gerhard Kirsch andere Wege. Schon als
kommissarischer Leiter des III. Physikalischen Instituts der Universität Wien versuchte
er, das Institut zu einer Forschungsstätte umzudefinieren, an der geophysikalisch gear-
Georg Stetter’s Patent Concerning Production of Atomic Energy, Technical Intelligence, Vienna, vom
29.9.1953.
335 In der Quelle ist von »nuclear processes« die Rede, ausdrücklich nicht von Fusionsprozessen. Vgl.
NARA, RG 330, Box 103, Entry 1 B : Biographical Data Lintner, Karl Rudolf Josef, undatiert.
336 Vgl. Karlsch 2012, 150.
337 Österreichische Zentralbibliothek für Physik Wien, ab sofort : ZBP, NL Broda, Box 24, File 55, Fiche
54 : Hans Thirring, In den nächsten zehn Jahren muss es zwischen den Supermächten USA, UdSSR,
China, England und Frankreich zu einer allgemeinen Abrüstung kommen, undatiert.
Kerne, Kooperation und Konkurrenz
Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Titel
- Kerne, Kooperation und Konkurrenz
- Untertitel
- Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Autor
- Silke Fengler
- Herausgeber
- Carola Sachse
- Mitchell G. Ash
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-79512-4
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 380
- Schlagwörter
- Institute for Radium Research, nuclear research in Austria, History of science, National Socialism, The Cold War --- Radiuminstitut, Kernforschung in Österreich, Wissenschaftsgeschichte, Nationalsozialismus, Wissenschaftskooperation, Kalter Krieg
- Kategorien
- Naturwissenschaften Chemie
- Naturwissenschaften Physik
Inhaltsverzeichnis
- 1. Kernforschung in Österreich im Spannungsfeld von internationalerKooperation und Konkurrenz 9
- 2. Österreich-Ungarn und die internationale Radioaktivitätsforschung, 1899–1918 30
- 3. Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung, 1919–1932 93
- 3.1 Die Naturwissenschaften in Österreich nach 1918 94
- 3.2 Das regionale Netzwerk festigt sich 97
- 3.3 Das Zentrum (re-)formiert sich 109
- 3.4 Das Zentrum in Aktion : Atomzertrümmerungsforschung als internationales Projekt 140
- 3.5 Die Anfänge der Atomzertrümmerungsforschung als Geschäft der Reichen 176
- 4. Kernforschung in Österreich, 1932–1938 178
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 4.1.1 Neue Standards für die Internationale Radiumstandard- Kommission 179
- 4.1.2 Neue Mitglieder für die Internationale Radiumstandard- Kommission 182
- 4.1.3 Der Ruf nach höchsten Spannungen in der internationalen Kernphysik 185
- 4.1.4 Die Wiener Reaktionen 190
- 4.1.5 Das Polonium-Netzwerk im Dienst der Neutronenforschung 193
- 4.1.6 Höhenstrahlungsforschung zwischen Peripherie und Zentrum 200
- 4.2 Das Zentrum verliert den Anschluss 206
- 4.3 Kernforschung in Österreich als nationales Projekt 226
- 4.4 Wüstentrockenheit auf dem Gebiet der Atomzertrümmerung 234
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 5. Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«, 1938–1945 236
- 6. Kernforschung für die Alliierten – ein Epilog 307
- 7. Schluss 322
- 8. Anhang 334
- Abkürzungsverzeichnis 334
- Verzeichnis der benutzten Archivbestände 336
- Literaturverzeichnis 340
- Personenregister 369