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14 (2) Welche Erzählstrukturen und Muster kehren in den lebensgeschichtlichen Erzäh-
lungen wieder? Wie werden die Geschichte des Tales und die eigene Lebensge-
schichte verquickt?
Im Titel dieser Arbeit wird die Analyse lebensgeschichtlicher Interviews in Hin-
blick auf „Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen“ angekündigt. Auf die Defini-
tion dieser zunächst vielleicht diffus erscheinenden Begriffe soll an anderer Stelle
im Detail eingegangen werden. Es erscheint an dieser Stelle allerdings sinnvoll, die
Beweggründe zur Wahl des Titels sowie die Ziele und vor allem die Nicht-Ziele
dieser Arbeit anzusprechen, noch bevor tiefer in die Materie eingestiegen wird.
Aus der Lektüre jener Arbeiten, die sich einer näheren Analyse von Autobiogra-
fien widmen, ergibt sich gleichsam eine Begriffswolke um das lebensgeschichtliche
Erzählen. Von „Erzählstrukturen“ und „Leitlinien des Erzählens“ über „Erzähl-
figuren“ und „Geschichten-Typen“ hin zur alles umfassenden (?) „Erinnerungskul-
tur“ oder „Erzählkultur“ kann der Überblick über die Begrifflichkeiten in diesem
Zusammenhang schon mal verloren gehen. Die Entscheidung gegen die Ankündi-
gung einer „-kultur“-Analyse fiel noch am leichtesten, wo bereits vor 20 Jahren von
honorigen Volkskundlern kritisiert wurde, dass über diesen „semantischen Trick
[des „-kultur“-Suffixes, Anm.] so das Detail, jede Belanglosigkeit systemadäquat
und theoriewürdig gemacht werden [kann].“2
Auch wenn der Inhalt dieser Arbeit durchaus als Analyse einer Erinnerungs-
oder Erzählkultur bezeichnet werden könnte, soll der Untersuchungsgegenstand
doch genauer eingegrenzt werden, ohne ihn zu sehr zu beschränken. Der Begriff
der „Erinnerungspraxis“ soll einerseits Raum lassen für verschiedene Qualitäten
des Erinnerns und auch des Verdrängens, soll aber bereits den konkreten Zugang
zur Erinnerung – nämlich über Erzählungen – andeuten, ohne dass Analysen der
Erinnerungen entlang von Begriffen wie dem „kollektiven“ oder dem „kulturellen
Gedächtnis“ ins Zentrum gerückt werden. Der Begriff der „Erzähltradition“ folgt
in dieser Arbeit der Auslegung Gabriele Michels, die verallgemeinernd definierte:
„Jeder Erzähler, bevor er selbst zu erzählen beginnt, [war] immer schon Leser und
Hörer von Erzähltem […]. Seine eigene Erzähltätigkeit ist eingebunden in eine
mündliche Erzähltradition, die hier nicht als literarische, sondern als die des All-
tags begriffen werden soll.“3 Der Begriff der Erzähltradition umfasst damit auch
Albrecht Lehmanns Forschungskategorien des lebensgeschichtlichen Erzählens,
wie etwa die „Erzählstrukturen“ oder die „Leitlinien des Erzählens“. Die Frage
nach den Erzählstrukturen und Mustern bei lebensgeschichtlichen Erzählungen,
und darüber hinaus nach der Auswahl der Geschichten, die nach Ansicht der
2 Korff, Gottfried: Bemerkungen zur öffentlichen Erinnerungskultur. In: Bönisch-Brednich, Brigitte
u.a. (Hg.): Erinnern und Vergessen. Vorträge des 27. Deutschen Volkskundekongresses Göttingen
1989. Göttingen 1991. S. 163–176. Hier S. 163.
3 Michel, Gabriele: Biographisches Erzählen – zwischen individuellem Erlebnis und kollektiver
Geschichtentradition. Untersuchung typischer Erzählfiguren, ihrer sprachlichen Form und ihrer
interaktiven und identitätskonstituierenden Funktion in Geschichten und Lebensgeschichten.
Tübingen 1985. S. 88.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439