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Probleme mit der Doppelrolle des/der Interviewenden, die einerseits Empathie
und andererseits kritische Distanz, kombiniert mit absichtlicher Naivität, ver-
langt.9 Die hier angesprochenen Gefahren sind allerdings jeder Methode in abge-
wandelter Form immanent, da es sich größtenteils um Fehler in der Einschätzung
der Interviewenden und Forschenden handelt. Die Fehler in Methode und For-
schungsdesign sind also in Bezug auf qualitative Interviews keinesfalls spezifisch.
Zentrale und spezifische Problematiken ergeben sich allerdings im Bereich
der Kommunikation im Rahmen eines biografischen Interviews. Abgesehen von
Gesprächsdynamiken, die sich zwischen den Beteiligten ergeben, sowie den Zug-
zwängen des Erzählens,10 auf die im nächsten Kapitel noch näher eingegangen wer-
den soll, hat die biografische Forschung darauf hingewiesen, dass „erzählte Lebens-
geschichte keineswegs so ‚privat‘ und individuell ist, wie man meinen möchte,
sondern daß sie, dem Erzähler unbewußt, an ‚Formtraditionen‘ und ‚Orien-
tierungsfolien‘ gebunden ist, die ihm längst vorgegeben sind. […] Biographische
Kommunikation ist vorstrukturiert.“11 Ein Blick auf die häufigsten kulturellen For-
men, in denen Biografien thematisiert werden, macht dies deutlich: Von der typi-
sierten Lebenslaufdarstellung in einem Bewerbungsverfahren beginnend, über die
ritualisierten Formen von Mitteilung und Entgegennahme biografischer Angaben
bei einer Beichte oder auch einer ärztlichen Anamnese, bis hin zu den die eigene
Lebensplanung prägenden Normen und Erwartungen folgen Darstellungen von
Biografien bestimmten Strukturen. Gerade in Bezug auf biografische Interviews
ist auch das Wissen um historische Zusammenhänge von Bedeutung, wenn es um
die retrospektive Strukturierung der Darstellung des eigenen Lebens geht.12 Hier
spielen beispielsweise gesellschaftlich vorgegebene Einteilungen in Hinblick auf
Epochen, Interpretationen von Zusammenhängen oder Bewertungen von sensib-
len Momenten eine große Rolle.
Der Soziologe und Psychologe Harald Welzer geht in Hinblick auf die Regeln
menschlicher Kommunikation einen Schritt weiter und bezeichnet das (biogra-
fische) Interview als Artefakt. Er bezieht sich hierbei auf Ergebnisse von Unter-
suchungen, die aufzeigen, dass auch kleinste verbale wie nonverbale Äußerungen
und Reaktionen der Zuhörenden Einfluss auf das Verhalten der erzählenden Per-
son nehmen. Diese Erkenntnisse gehen mit dem bekannten Postulat Paul Watz-
lawicks einher, der feststellte, dass man „nicht nicht kommunizieren“13 könne.
Welzer fügt diesen Erkenntnissen die Annahme hinzu, dass „man so spricht,
9 Hermanns, Harry: Interviewen als Tätigkeit. In: Flick, Uwe, Ernst von Kardorff und Ines Steinke
(Hg.): Qualitative Forschung. Ein Handbuch. Hamburg 20075. S. 360–368. Hier S. 364.
10 Froschauer/Lueger: Das qualitative Interview. S. 215.
11 Vorländer, Herwart: Mündliches Erfragen von Geschichte. In: Vorländer, Herwart (Hg.): Oral His-
tory. Mündlich erfragte Geschichte. Göttingen 1990. S. 7–28. Hier S. 15.
12 Vorländer: Mündliches Erfragen von Geschichte. S. 16.
13 Watzlawick, Paul, Janet Beavin und Don Jackson: Menschliche Kommunikation. Formen, Störun-
gen, Paradoxien. Bern 1969. S. 50f.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439