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Interviews eröffnet den Forschenden Einblicke in ein Thema, die sich mithilfe
anderer Methoden nicht wissenschaftlich erschließen lassen würden. Erst das
qualitative Interview ermöglicht, Situationsdeutungen oder Handlungsmotive in
offener Form zu erfragen oder Alltagstheorien und Selbstinterpretation differen-
ziert und offen zu erheben.18 Niethammer beantwortet die Frage, warum sich die
(geschichts- und sozialwissenschaftliche) Forschung von den Grenzen standardi-
sierter Erhebung zu interpretativen bzw. narrativen Erhebungsmethoden hinbe-
wegt hat, wie folgt: „Nämlich, weil die theoriegeleiteten Standardisierungen der
Nachfrage nicht mehr näher an die Wirklichkeit heranzuführen schien, haben wir
uns – um den Preis der reduktiven Beweisbarkeit – offenen Nachfragen bei Akteu-
ren und Erfahrungsträgern geöffnet.“19 Der Rechtfertigungsdruck, warum sich die
Forschung auf wenig mess- und wiederholbare Ergebnisse einlässt und der beson-
ders auf den Geschichts- und Sozialwissenschaften lastet, spielt in der Erzählfor-
schung nur am Rande eine Rolle, da die Zuverlässigkeit in Bezug auf historische
Sachverhalte und Abläufe keineswegs einen Anspruch an das Forschungsobjekt
darstellt. Die Brauchbarkeit jeder Quelle hängt schließlich vor allem von der Art
der gesuchten Information bzw. von den Fragen ab, die man jeweils zu beantwor-
ten sucht.20
Da seit dem Beginn der 1980er Jahre die Biografieforschung innerhalb der
volkskundlichen Erzählforschung mehr und mehr Beachtung fand, erweiterte sich
hier das Methodenspektrum um das biografische Interview, das in verschiedensten
Forschungsprojekten zur Verwendung gelangt ist. Hier kann in komplexeren For-
schungsprojekten mithilfe des autobiografischen Tiefeninterviews nach „lebens-
geschichtlichen Großerzählungen“ geforscht werden oder aber etwa Einzelaspekte
der Lebensgeschichte und die Rolle der Gewährspersonen als ZeitzeugInnen für
jüngere geschichtliche Ereignisse untersucht werden.21 Die Analyse von lebensge-
schichtlichen Erzählungen in Hinblick auf kulturelle Vorlagen des biografischen
Erzählens, also etwa ihre Strukturen und Leitlinien, wurde im Laufe der letzten
drei Jahrzehnte vor allem durch Albrecht Lehmann zum Forschungsbereich der
kulturwissenschaftlich-volkskundlichen Erzählforschung erhoben.22
18 Hopf: Qualitative Interviews. S. 350.
19 Niethammer, Lutz: Was unterscheidet Oral History von anderen interview-gestützten sozial-
wissenschaftlichen Erhebungsverfahren? In: Leh, Almut und Lutz Niethammer (Hg.): Kritische
Erfahrungsgeschichte und grenzüberschreitende Zusammenarbeit. The networks of Oral History
(= BIOS. Zeitschrift für Biographieforschung, Oral History und Lebensverlaufsanalysen. Sonder-
heft 2007) Opladen 2007. S. 60–65. S. 61.
20 Grele, Ronald: Ziellose Bewegung. Methodologische und theoretische Probleme der Oral History.
In: Niethammer, Lutz (Hg.): Lebenserfahrung und kollektives Gedächtnis. Die Praxis der „Oral
History“. Frankfurt a. M. 1980. S. 143–161. Hier S. 147.
21 Brednich, Rolf Wilhelm: Methoden der Erzählforschung.In: Göttsch, Silke und Albrecht Lehmann:
Methoden der Volkskunde. Positionen, Quellen, Arbeitsweisen der Europäischen Ethnologie. Ber-
lin 2001. S. 57-78. Hier S. 73.
22 Vgl. Lehmann, Albrecht: Erzählstruktur und Lebenslauf. Autobiographische Untersuchungen.
Frankfurt a. M. 1983.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439