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finden, sondern als Muster neuronaler Verbindungen über verschiedene Bereiche
des Gehirns verteilt und als solche abrufbar. Sich zu erinnern bedeutet in der Folge
„assoziativ Muster zu aktivieren, und bei diesem komplexen Vorgang kann einiges
mit dem Erinnerungsinhalt geschehen. […] Im Regelfall leistet das Gehirn eine
komplexe und eben konstruktive Arbeit, die die Erinnerung, sagen wir: anwen-
dungsbezogen modelliert.“45 Ergebnisse aus der Hirnforschung untermauern diese
Kommunikativität – oder auch Veränderbarkeit – des Gedächtnisses. Erinnerung
kommt diesen Ergebnissen zufolge erneuter Wahrnehmung sehr nahe: Da das
Abspeichern von Wahrgenommenem sehr langsam erfolgt, und einer Konsolidie-
rung bedarf, kann es vorkommen, dass Erinnerungsspuren vollkommen ausge-
löscht werden können, wenn innerhalb von Stunden oder auch Tagen nach dem
Lernprozess der Konsolidierungsprozess gestört wird. Erinnern geht somit meist
einher mit Neu-Einschreiben. Es ist niemals auszuschließen, dass die alte Erinne-
rung beim Erinnerungsprozess in neue Zusammenhänge eingebettet und damit
aktiv verändert wird.46 Zusammenfassend bedeutet das, dass jede neue Erfahrung
auf Grundlage der bestehenden Erfahrungen ins Gedächtnis eingeschrieben wird,
also durch vorangegangene Erinnerungen beeinflusst wird und darüber hinaus
bestehende Erinnerungen verändern kann.47 Mit den Worten Welzers lässt sich
somit sagen, „daß nicht nur die Gedächtnisinhalte kommunikativ gebildet werden,
sondern auch die Struktur, in der diese Inhalte bearbeitet werden.“48
In der Psychologie ist, dies soll hier nur am Rande ergänzt werden, ferner vom
„autobiografischen Gedächtnis“ die Rede. Diese Bezeichnung meint das spezifisch
menschliche Gedächtnissystem, das sich im Laufe der frühen Kindheit innerhalb
bestimmter sozialer und kultureller Milieus herausbildet. In ihm sind alle auf das
eigene Selbst bezogenen Ereignisse, Erlebnisse und Erfahrungen repräsentiert.
Wenn vom eigenen Leben oder gar die eigene Lebensgeschichte erzählt wird,
wird das autobiografische Gedächtnis aktiv.49 Dieses Gedächtnis umfasst zwar
die Lebensgeschichte des Individuums und ist auf diese Weise persönlich, gleich-
zeitig wird es aber auch als Teil des kulturellen Erbes verstanden und ist damit
abhängig von sozialen Beziehungen und sprachlichen Praktiken. In Konsequenz
variiert das autobiografische Gedächtnis je nach Individuum und Kultur.50 In der
Psychologie wird die Ausbildung der eigenen Identität als eine wichtige Funktion
des autobiografischen Gedächtnisses beschrieben. In Bezug auf die vorliegende
45 Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit. S. 20f.
46 Singer: Wahrnehmen, Erinnern, Vergessen. S. 83f.
47 Welzer: Das kommunikative Gedächtnis. S. 44f.
48 Welzer: Das kommunikative Gedächtnis. S. 91.
49 Haubl, Rolf: Die allmähliche Verfertigung von Lebensgeschichten im soziokulturellen Erinne-
rungsprozess. In: Dörr, Margret, Heide von Felden, Regine Klein, Hildegard Macha und Winfried
Marotzki (Hg.): Erinnerung – Reflexion – Geschichte. Erinnerung aus psychoanalytischer und bio-
graphietheoretischer Perspektive. Wiesbaden 2008. S. 197–212. Hier S. 197.
50 Nelson, Katherine: Über Erinnerung reden: Ein soziokultureller Zugang zur Entwicklung des auto-
biographischen Gedächtnisses. In: Welzer, Harald und Hans Markowitsch (Hg.): Warum Men-
schen sich erinnern können. Fortschritte in der interdisziplinären Gedächtnisforschung. Stuttgart
2006. S. 78–94. Hier S. 78.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439