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30 Großen Einfluss auf das Erinnerungsvermögen von beispielsweise ZeitzeugInnen
nimmt das Umfeld beim Prozess des Erinnerns. Hier sind sogenannte „Erinne-
rungsgemeinschaften“ von Bedeutung. Analog zu Lehmanns „Erzählgemeinschaf-
ten“, die durch Gemeinsamkeiten im Erleben Erzählthemen und Leitlinien des
Erzählens prägen,58 fördern Erinnerungsgemeinschaften als Gruppe von Indivi-
duen mit ähnlichen Erfahrungen den Erinnerungsprozess, bzw. das Wachhalten
und Fortschreiben von emotional wichtigen Ausschnitten aus der Geschichte. Als
Beispiel für dieses Phänomen der „affektiven Kongruenz des Erinnerns“ kann auf
Kameradschaftstreffen verwiesen werden, im Rahmen derer eine größere Reich-
haltigkeit von Erinnerungen aus dem Krieg vorzufinden ist, als wenn im Rahmen
von Forschungsinterviews lebensgeschichtliche Erinnerungen abgefragt werden.59
Zwei weitere Phänomene des Erinnerns sollen, unter vielen weiteren Erinnerung
prägenden Faktoren ausgewählt, an dieser Stelle kurz erwähnt werden, weil es
sich hierbei um auch in Zusammenhang mit ZeitzeugInneninterviews sehr häu-
fige Erscheinungen handelt. Bei der sogenannten „Quellenamnesie“ handelt es
sich um das verbreitete Problem, dass ein Ereigniszusammenhang zwar korrekt
erzählt wird, die erzählende Person sich aber in der Quelle geirrt hat, aus der die
Erinnerung schöpfte. Ein prominentes Beispiel für Quellenamnesie geht auf eine
Erzählung Ronald Reagans zurück, der vor JournalistInnen sichtlich berührt und
detailreich eine Anekdote von seinem Einsatz im Zweiten Weltkrieg zum Besten
gab, von der sich später herausstellte, dass sie bis ins Detail einer Szene aus einem
Kriegsfilm entstammte.60 Die Verbreitetheit dieses Phänomens soll gerade in Hin-
blick auf spektakuläre Erzählungen der Montafoner ZeitzeugInnen an dieser Stelle
kurz erwähnt werden, ebenso wie das Phänomen der Konfabulation. Hierunter ist
das Nachdichten und Ausschmücken von Geschichten im Zuge ihres wiederholten
Erzählens zu verstehen, wobei betont werden muss, dass dies nicht in bewusster
Absicht der erzählenden Person geschieht, sondern diese sich ganz im Gegenteil
ihres korrekten Erinnerns völlig sicher ist und den Prozess oder das Ereignis noch
„genau vor Augen haben“ kann. Gerade die visuelle Repräsentanz sichert die Über-
zeugung, hier über einen Ausschnitt der eigenen Biografie zu sprechen, auch wenn
sich die berichteten Geschehnisse nur scheinbar auf diese Weise ereigneten.61
Eng verbunden mit dem Erinnern ist das Vergessen, das allerdings nicht das spur-
lose Verschwinden von einmal Gespeichertem bezeichnet. Wie bereits erwähnt
wurde, werden Erinnerungen nicht in Teilbereichen des Gehirns abgelegt, sondern
konstituieren sich als Verbindungen bestimmter Gedächtnisinhalte. Da es sich
beim menschlichen Gehirn um einen sogenannten Assoziativspeicher handelt,
kann es bei neuen Erfahrungen zum Überschreiben von alten, bereits eingeschrie-
benen Erinnerungen kommen. Gerade dieses Überschreiben, das beispielsweise
58 Lehmann: Erzählstruktur und Lebenslauf. S. 25.
59 Welzer: Das kommunikative Gedächtnis. S. 37f.
60 Welzer: Das kommunikative Gedächtnis. S. 43.
61 Welzer: Das kommunikative Gedächtnis. S. 43.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439