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ten nimmt, als Ursache für das zyklische Zeiterleben zu verstehen. Häufig werden
Erinnerungen an Ereignisse mit dem Naturerleben, beispielsweise der Kirschblüte
oder den Heuarbeiten, verknüpft. Im Repetitiven des Alltags treten die besonderen
Ereignisse der erlebten Zeit hervor. Sie haben für die Erinnerung eine wichtige Ori-
entierungsfunktion im Zeitablauf. An diese besonderen Ereignisse wird die lineare
Zeit angeknüpft und beides verbindet sich im Vorgang des Sich-Erinnerns.86
Auch wenn die heutige industrialisierte und hochgradig ausdifferenzierte Gesell-
schaft unabhängiger geworden ist von den Gegebenheiten der Natur, so spielt die
von Lehmann als „Naturzeit“ bezeichnete Abfolge der Tage, Nächte und Jahres-
zeiten nach wie vor eine Rolle für die Geschichtlichkeit der Menschen. Neben der
linearen „geschichtlichen Zeit“, die den Menschen sich als Teil der Geschichte
begreifen lässt, und der eben erwähnten „Naturzeit“ verortet Lehmann eine
dritte Dimension der Geschichtlichkeit des Menschen, die für die autobiografi-
sche Erzählung wichtiger zu sein scheint als die beiden ersten Dimensionen: Die
„lebensgeschichtlichen Zeitkategorien“ bezeichnen die Altersstufen im Leben eines
Menschen. Die Klassifikationen dieser Altersgruppen sind ebenfalls kulturspezi-
fisch sehr unterschiedlich, spielen allerdings für die Biografie immer eine wichtige
Rolle.87 Eine in Mitteleuropa verbreitete Kategorisierung der Lebensaltersstufen,
vielfach auch als „Normalbiografie“ bezeichnet, entspricht etwa der Einteilung
„frühe Kindheit und Kindheit“, „Jugend und Adoleszenz“, „Erwachsenenalter und
familien- bzw. berufsgeprägte Jahre“ sowie „Alter“.88
Die alltäglichen, alljährlichen Zyklen können Erzählungen also prägen und
strukturieren, das Alltägliche selbst bleibt allerdings kaum in Erinnerung. Es ist
ein Dilemma einer am Alltag ausgerichteten Erzählforschung, dass das Gedächtnis
auf das Besondere fixiert ist und vor allem herausgehobene Ereignisse des Lebens
speichert. Das durchschnittliche Alltagsleben wird hingegen in Form typisierter
Erfahrungs- und Erinnerungskomplexe festgehalten, das heißt in typisierten und
zu Erinnerungen „aufgeschichteten“ Erfahrungen vom Typ Sonntagsfrühstück,
Schulausflug, Kirchgang. Erst wenn etwas Außergewöhnliches dazukommt, wird
ein Sonntagsfrühstück zum besonderen Ereignis.89
Wie bereits ausführlich dargestellt wurde, ist die Rekonstruktion der eigenen
Lebensgeschichte keine monologische Tätigkeit, sondern findet sozial vermittelt
statt. Mitmenschen werden als AdressatInnen, aber auch als Co-ErzählerInnen
eingebunden, besonders wenn es sich um miterlebte Ereignisse handelt. Lehmann
spricht, analog zur bereits erwähnten Erinnerungsgemeinschaft, in diesem Zusam-
menhang von einer „Erzählgemeinschaft“: „Der homo narrans, der Erzähler als
86 Holl, Waltraud: Geschichtsbewußtsein und Oral History. Geschichtsdidaktische Überlegungen. In:
Vorländer, Herwart (Hg.): Oral History. Mündlich erfragte Geschichte. Göttingen 1990. S. 63–82.
Hier S. 73f.
87 Lehmann: Erzählstruktur und Lebenslauf. S. 14f.
88 Lehmann: Erzählstruktur und Lebenslauf. S. 281f.
89 Lehmann: Reden über Erfahrung. S. 57.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439