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Bestimmtheit stellen sie sich als Augen- und Ohrenzeugen heraus und vertreten
die Überzeugung: „Wer das nicht erlebt hat, kann das nicht verstehen“ bzw. „Nur
wer dabei gewesen ist, weiß, wie es wirklich war“. Dieser Egozentrismus, der die
Perspektivität jeder Wahrnehmung und Erinnerung ausblendet, ist bei den meis-
ten Erwachsenen weniger ein kognitives als vielmehr ein emotionales Problem.
Ein Beispiel in diesem Zusammenhang liefern die Reaktionen auf die „Wehr-
machtsausstellung“ Ende der 1990er Jahre, im Zuge derer sich ehemalige Wehr-
machtsangehörige über das Urteil von HistorikerInnen empörten. Durch die Aus-
stellung wurden ihre eigene Perspektive relativiert und in der Folge Schuldgefühle
reaktiviert. Auch für WissenschaftlerInnen gilt es in solchen Situationen, sich zu
vergegenwärtigen: KeinE ZeitzeugIn hat einen privilegierten Zugang zur histori-
schen Wahrheit. Diese kann allein einem späteren handlungsentlasteten und vor
allem quellenkritischen Reflexionsprozess entspringen, um den sich Fachhisto-
rikerInnen bemühen.101 Andererseits kann die Diskrepanz zwischen Fakten und
Erinnertem nicht immer mit psychologischen unbewussten oder auch bewussten
Mechanismen erklärt werden, wie der Sozialpsychologe Harald Welzer mit folgen-
den Worten andeutet: „[…] ich glaube, man unterschätzt das Problem, wenn man
einfach davon ausgeht, hier ginge es immer um Verdrängung, Abwehr oder Lüge.
Das Problem könnte im Gegenteil eher darin bestehen, daß die Leute glauben, was
sie sagen.“102
Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass es sich bei lebensgeschichtlichen
Erzählungen um ein Produkt handelt, das nicht nur von der Gesprächssituation
selbst beeinflusst ist. Von der Selbstbeschreibung in der Schule, über die Verfas-
sung verschiedener Curricula Vitae für Bewerbungen um eine Arbeitsstelle, bis
hin zur Beichte oder dem Tagebucheintrag kann in unserer Gesellschaft auf eine
hochentwickelte Kultur des Erinnerns und Biografierens zurückgegriffen werden.
Klara Löffler analysiert die Zusammenhänge dieser Kultur mit der Selbstdarstel-
lung in einer Interviewsituation folgendermaßen: „Die individuelle Organisation
von Erfahrungen in (lebensgeschichtlichen) Erinnerungen ist mit dieser Kultur
verquickt; jede Rekapitulation ist mit der Gegenwart, mit deren Vorstellungen und
Bedürfnissen nach einer eigenen Vergangenheit verbunden und richtet sich an
dem Fluchtpunkt der Zukunftserwartungen aus. Im Erinnern leben nicht einfach
alle oder nur affektiv besetzte Ereignisse der Vergangenheit fort; das Konstruk-
tionsprinzip dieser ‚fortlaufende[n] Überarbeitung des Erfahrenen‘ ist vielmehr
selektiv und perspektivistisch.“103
101 Lehmann: Erzählstruktur und Lebenslauf. S. 199.
102 Welzer: Das Interview als Artefakt. S. 59.
103 Löffler: Zurechtgerückt. S. 67f.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439