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Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert - Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
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44 diesem Zusammenhang, dass an Stelle der Frage nach der Wahrheit für eine For- schung, der es um die Analyse von Erzählungen geht, die Frage nach der „Betrof- fenheit“ treten muss: „Die Persönlichkeit, das ‚Selbst‘, mit ihren Problemen und Bedürfnissen muß in vollem Umfang ernst genommen und toleriert werden. Falls jemand ‚objektiv‘ gesehen die Unwahrheit erzählt, so müssen wir zunächst unbesehen voraussetzen, daß dazu immer eine einleuchtende lebensgeschichtli- che Begründung gegeben ist.“109 Es muss den Forschenden bewusst sein, dass die erzählende Person von ihrer eigenen Geschichte am stärksten betroffen ist und in der Erzählsituation unter bestimmten Zwängen steht. ZeitzeugInnen sind in einer Interviewsituation zunächst von ihrer eigenen (möglicherweise unheilvol- len) Lebensgeschichte und schließlich zusätzlich von deren Bewertung durch andere betroffen: Dies führt zu einer Betroffenheit im doppelten Sinn. Neben dem Einfluss der gegenwärtigen Erzählsituation sowie der lebensgeschichtlichen Zeitspanne, die zwischen dem Erleben und dem Erzählen liegt, stehen die Men- schen mit ihren Erinnerungen einer Gesellschaft gegenüber, die sich im Laufe der Jahrzehnte gewandelt hat. Das zurückliegende, erinnerte Handeln unterliegt somit auch dem Einfluss gegenwärtiger Bewertungen. In diesem Zusammenhang sagen viele erzählte Lebensgeschichten mehr über die Gegenwart der erzählenden Person aus als über ihre Vergangenheit.110 Im Falle einer günstigen und kontinuierlichen Entwicklung einer Biografie kann der/die ErzählerIn die vergangenen Ereignisse mühelos mit der persönlichen Gegenwart in Übereinstimmung bringen. In vie- len Fällen verläuft die Entwicklung aber nicht bruchlos, was bewirkt, dass sich ein Mensch genötigt fühlt, sein Leben neu zu interpretieren und aktiv Vergangenheit und Gegenwart in ein stimmiges Ganzes zu verwandeln, um seine Selbstachtung aufrecht erhalten zu können. Beschönigende Veränderungen der Lebensgeschichte als Teil des Erinnerungsprozesses können sich ohne Einwirkung von außen erge- ben, kommen aber meist unter dem Eindruck direkter Kommunikation, also wäh- rend des Erzählprozesses, zustande. Lehmann nennt diesen Prozess „Korrekturen der Wirklichkeit“.111 Wie Aleida Assmann resümiert, befinden wir uns „derzeit in einer Phase der kritischen Reflexion, der Skepsis, der Dekonstruktion von Erinnerung. […] Die Dramatisierung des Problems, die aus einer unmittelbaren Konfrontation von Hirnforschung und Geschichtswissenschaft hervorgeht, scheint […] jedoch etwas übertrieben.“112 Assmann betont in ihren Ausführungen, dass Erinnerun- gen apodiktisch seien und sich selbst authentifizierten. Im Rahmen eines auto- biografischen Rückblicks werde das Erlebte zwangsläufig umgedeutet und in einen neuen Zusammenhang gebracht, der das jeweilige Selbstbild stützen könne. 109 Lehmann: Erzählstruktur und Lebenslauf. S. 27. 110 Lehmann: Erzählstruktur und Lebenslauf. S. 28. 111 Lehmann: Erzählstruktur und Lebenslauf. S. 29. 112 Assmann, Aleida: Wie wahr sind unsere Erinnerungen? In: Welzer, Harald und Hans Marko- witsch (Hg.): Warum Menschen sich erinnern können. Fortschritte in der interdisziplinären Gedächtnisforschung. Stuttgart 2006. S. 95–110. Hier S. 108.
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Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
Titel
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Untertitel
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
Verlag
StudienVerlag
Ort
Innsbruck
Datum
2013
Sprache
deutsch
Lizenz
CC BY-NC-ND 3.0
Abmessungen
15.8 x 23.4 cm
Seiten
464
Schlagwörter
Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
Kategorie
Geographie, Land und Leute

Inhaltsverzeichnis

  1. Vorwort 11
  2. Einführung 13
  3. 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
    1. 1.1. Potenzial und Grenzen des biografischen Interviews 18
    2. 1.2. Entstehung und Funktion von Erinnerungen 22
      1. 1.2.1. Wahrnehmung 22
      2. 1.2.2. Kollektives, kulturelles, kommunikatives, autobiografischesGedächtnis 25
      3. 1.2.3. Erinnerung 29
    3. 1.3. Spezifika von Erzählungen im Rahmen lebensgeschichtlicher Interviews 31
      1. 1.3.1. Vom Erzählen zur Erzählung 32
      2. 1.3.2. Spezifika von Erzählungen im narrativen Interview 34
      3. 1.3.3. Spezifika lebensgeschichtlicher Erzählungen 35
    4. 1.4. Potenzial der Erinnerungserzählungen 42
  4. 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
    1. 2.1. Zur Entstehung des Quellenmaterials 47
      1. 2.1.1. Der Idealtyp des narrativen Interviews und die Praxis 48
      2. 2.1.2. Die Arbeit mit dem erhobenen Quellenmaterial 50
      3. 2.1.3. Statistischer Überblick über die biografischen Interviews 52
    2. 2.2. Erinnerungspraxis und Erzähltradition: Definition und Forschungsziel 55
      1. 2.2.1. Zur Methodik der Auswertung und Analyse 58
      2. 2.2.2. Zur Darstellung der Ergebnisse 60
  5. 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
    1. 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
    2. 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
    3. 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
    4. 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
      1. 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
      2. 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
      3. 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
      4. 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
      5. 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
      6. 3.4.6. Modernisierung 112
      7. 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
      8. 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
      9. 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
      10. 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
      11. 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
      12. 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
      13. 3.4.13. Autoritäten 183
      14. 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
      15. 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
      16. 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
      17. 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
      18. 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
      19. 3.4.19. Repressives NS-System 230
      20. 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
      21. 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
      22. 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
      23. 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
      24. 3.4.24. Gefangenschaft 263
      25. 3.4.25. Heimkehr 268
      26. 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
      27. 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
      28. 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
      29. 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
      30. 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
      31. 3.4.31. Kriegsende 301
      32. 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
      33. 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
      34. 3.4.34. Entnazifizierung 324
      35. 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
      36. 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
      37. 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
      38. 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
      39. 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
      40. 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
      41. 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
      42. 3.4.42. Liebe und Ehe 370
      43. 3.4.43. Geburt der Kinder 381
      44. 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
      45. 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
      46. 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
      47. 3.4.47. Naturkatastrophen 400
      48. 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
      49. 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
      50. 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
  6. 4. Zusammenfassung und Synthese 421
    1. 4.1. Erzählstoffe und Leitlinien 422
      1. 4.1.1. Die 50 Erzählstoffe einer Durchschnittsbiografie 424
      2. 4.1.2. Ein Leben geprägt von Wandel 427
      3. 4.1.3. Arbeit als Lebensthema 428
      4. 4.1.4. Männer- und Frauenerzählungen 429
      5. 4.1.5. Geschichtliches und Lebensgeschichtliches 430
    2. 4.2. Erzählstrukturen und -strategien: Rechtfertigung, Idyllisierung, Vergleich 432
  7. 5. Verzeichnisse und Nachweise 439
    1. 5.1. Liste der anonymisierten ZeitzeugInnen 439
    2. 5.2. Literaturverzeichnis 440
    3. 5.3. Internetquellen 454
    4. 5.4. Abbildungsverzeichnis 454
    5. 5.5. Ortsregister 458
    6. 5.6. Personenregister 461
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