Seite - 45 - in Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert - Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
Bild der Seite - 45 -
Text der Seite - 45 -
45
Es komme nicht immer auf den Wahrheitsgehalt einer Erinnerung an, in einem
geselligen Kontext beispielsweise sei die Pointe einer schönen Geschichte wich-
tiger als die Faktizität des Erlebten.113 Dieses Verständnis Assmanns vom Wert
von Erinnerungserzählungen verdeutlicht das Potenzial von Autobiografien für
die kulturwissenschaftliche Erzählforschung gerade in jenen Punkten, in denen
in geschichtswissenschaftlicher Betrachtung Quellenkritik angebracht ist.114 Und
auch hier bedeutet eine gewisse Skepsis gegenüber Erzähltem noch nicht, dass die
Wahrheit von Erinnerungen und in der Folge von Erzählungen pauschal in Frage
gestellt werden muss. Gerade in Zusammenhang mit der von Lehmann einge-
forderten Frage nach der „Betroffenheit“ der erzählenden Person können in der
Arbeit mit narrativen biografischen Interviews die Erinnerungen von ZeitzeugIn-
nen nicht prinzipiell als zweifelhaft, unglaubwürdig oder unzuverlässig abgekan-
zelt werden.115 Dies würde ein verfrühtes Abwerten jener Quellen bedeuten, die
in der wissenschaftlichen Forschung – auch der historischen – nach wie vor einen
wichtigen Beitrag leisten.
Nicht zuletzt gestattet der Vergleich des Geschehenen und des Erinnerten, der im
Rahmen der Gedächtniskritik mehr ins Zentrum der Forschung rückte, psychische
Prozesse zu fassen, die zuvor kaum festgestellt werden konnten. Mentale Hand-
lungsspielräume werden sichtbar und die Triebkräfte kultureller Dynamik lassen
sich genauer als bisher analysieren. Die Gedächtniskritik läuft also keineswegs auf
den Verlust der autobiografischen Quellen und die bloße Dekonstruktion bishe-
riger Geschichtsbilder hinaus, sondern sie verzeichnet auch erhebliche Gewinne
für die Kulturwissenschaften. So zwingt sie etwa zu Umwertung der erhaltenen
Quellen und eröffnet Möglichkeiten zur Rekonstruktion einer neuen Vergangen-
heit, zumindest aber zur Abwägung einer Vielzahl von Hypothesen gegeneinander,
ohne dass stets eine definitive Lösung gefunden werden kann. Schließlich ist das
Eingeständnis des überlieferungsbedingten Nichtwissens wissenschaftlich kor-
rekter als das Postulieren bloßer Erinnerungszeugnisse als gesicherte Faktenaus-
sagen.116
Erinnerungen besitzen aus sich heraus einen Sinn, der unabhängig von der
durch die Erzählenden intendierten Wirklichkeit besteht und sich in eben dieser
Abweichung von der Wirklichkeit verrät. Für die Kulturwissenschaften ergeben
sich in dieser Abweichung von der Wirklichkeit Einblicke in die gegenwärtigen
Bedürfnisse der Gewährsperson, in ihre Leistungsfähigkeit, darüber hinaus in die
mentalen Attitüden und intellektuellen Verarbeitungsweisen gesellschaftlicher
Gruppen und ganzer Gesellschaften. So lassen sich durch das absichtliche oder
unabsichtliche Zusammenwirken der sich Erinnernden etwa die soziale und psy-
113 Assmann: Wie wahr sind unsere Erinnerungen? S. 108.
114 Weber, Wolfgang: Vom Nutzen und Sinn mündlicher Quellen. In: Weber, Wolfgang (Hg.): Audio-
visuelle Archive. Der 13. Vorarlberger Archivtag in Nenzing. (= Montfort. Vierteljahresschrift für
Geschichte und Gegenwart Vorarlbergs. Jg. 56) Dornbirn 2004. S. 123–128. Hier S. 124.
115 Schröder: Topoi autobiographischen Erzählens. S. 22.
116 Fried: Der Schleier der Erinnerung. S. 385.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439