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und Büroangestellte. Auch der agrarische Bereich ist durch die zahlreichen Land-
wirte unter den Zeitzeugen stark vertreten, was einerseits auf die starke landwirt-
schaftliche Prägung des Tales bis weit ins 20. Jahrhundert hinein, und andererseits
auch auf die über lange Jahre starke Orientierung des Heimatmuseums auf traditi-
onelle Arbeitsfelder wie eben die Landwirtschaft zurückzuführen ist.
Nur ein kleiner Teil der insgesamt stark unterrepräsentierten Frauen wurde
aufgrund ihrer Position im öffentlichen Leben (z.B. Gemeindeangestellte oder Wir-
tin) als Interviewpartnerin empfohlen und schließlich auch interviewt. Zumeist
war bei den befragten Frauen ihr außergewöhnlich hohes Alter der Grund für die
Kontaktaufnahme. Dieser Sachverhalt unterstreicht das eingangs erwähnte geringe
Interesse der Öffentlichkeit, hier wie gesagt repräsentiert durch die Empfehlungen
Dritter, an „einfachen Hausfrauen“.
Ein weiterer wichtiger Faktor erklärt den geringen Anteil an Frauen unter den Zeit-
zeugInnen. Nicht nur die Einschätzung anderer, sondern auch die Selbsteinschät-
zung, von welcher historischen Relevanz das eigene Leben sei, sind Faktoren bei
der Einwilligung einer Person zu einem biografischen Interview. Gerade in Anbe-
tracht der landläufigen Meinung, nur die „große Weltgeschichte“ als Geschichte
von Kriegen, Krisen oder Reformen sei historisch relevant, erscheint vielen die
eigene Lebensgeschichte als wenig „geschichtswürdig“ und damit nicht als erzäh-
lenswert. In der Literatur über den Ablauf und die Organisation von Oral-His-
tory-Projekten wurde mehrfach herausgearbeitet, dass vor allem bei Frauen aus der
Arbeiterschaft die Vorstellung von der geringen Allgemeinbedeutung der eigenen
Geschichte besonders stark ausgeprägt ist.12 Dies ist einerseits darauf zurückzu-
führen, dass Frauen in den meisten Studien der Geschichts-, aber auch der Kultur-
und Sozialwissenschaften lange Zeit bestenfalls als Randfiguren in Erscheinung
traten. Andererseits ist die Geschichte der „kleinen Leute“ erst im Laufe der letzten
drei Jahrzehnte als „seriöser“ Gegenstand der Forschung anerkannt worden,13 und
aufgrund der in weiten Bevölkerungsteilen großen Unbekanntheit dieses „neuen“
Forschungsinteresses ist vielen potenziellen ZeitzeugInnen die Frage nach ihren
Erinnerungen bis heute suspekt oder gar unverständlich. Gerade Frauen betonten
schon am Telefon, aber auch vor, nach und während der Interviewsituation immer
wieder, dass sie „nichts Wichtiges zu erzählen“ hätten, und dass andere (Männer?)
„mehr wüssten“. Somit war nicht nur die Wahrscheinlichkeit, auf der Suche nach
potenziellen InterviewpartnerInnen auf Frauen verwiesen zu werden, geringer –
auch die Bereitschaft vieler Frauen zu einem Gespräch war aufgrund der niedrigen
Einschätzung der Relevanz des eigenen Lebens häufig gering.
Schließlich soll an dieser Stelle auch noch kurz auf weitere basale Eckdaten zur
Gruppe der 66 Interviewten eingegangen werden. So verdeutlicht die Datenbank,
dass die biografischen Interviews mit ZeitzeugInnen geführt wurden, die zwi-
schen 1904 und 1945 geboren waren. In Dekaden eingeteilt, wird deutlich, dass
12 Hagemann: „Ich glaub’ nicht, daß ich Wichtiges zu erzählen hab’ …“. S. 29.
13 Hagemann: „Ich glaub’ nicht, dass ich Wichtiges zu erzählen hab’ …“. S. 29.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439